Glauben & Zweifeln

Wo bist Du, Gott? Pastoralreferent Martin Wrasmann begibt sich während Corona auf die Suche

Martin Wrasmann Veröffentlicht am 28.06.2020
Wo bist Du, Gott? Pastoralreferent Martin Wrasmann begibt sich während Corona auf die Suche

KURT-Kolumnist Martin Wrasmann fragt: Wo ist Gott in der Corona-Pandemie?

Foto: Çağla Canıdar

Keine Ahnung, wie es Ihnen geht, aber mich beschäftigt – neben manchem anderen – auch diese Frage: Wo ist Gott in diesen Tagen der Corona-Pandemie? Unser Leben ist in kürzester Zeit sehr anders geworden. Und ich merke: Manchmal komme ich gar nicht richtig mit. Ich brauche Zeit, um die neuen Realitäten zu begreifen, mich zurecht zu finden; mit den vielen Einschränkungen und dem, was im Moment eben nicht möglich ist. Die Ausmaße der Pandemie sind erschreckend. Die ganze Welt ist betroffen. Und Du, Gott, wo bist Du?

Während ich diese Zeilen schreibe, merke ich – wieder einmal –, dass ich mit Verschwörungsmeinungen nichts anfangen kann. Weder weltlichen noch religiösen. Im Internet gibt es zahlreiche Kommentare, die im Ausbruch des Corona-Virus eine Strafe Gottes sehen. Es gibt religiöse Gemeinschaften, die die Pandemie als Prüfung Gottes verstehen und in diesem Glauben sich Schutzmaßnahmen widersetzen; wer nur fest genug an Gott glaubt, dem wird schon nichts passieren. Wo das hinführt, haben wir zu genüge gesehen. Es ist ungeheuerlich, wie hier oft im Namen Gottes Menschen in die Irre geführt werden. Denn ich bekomme dies mit der Liebe Gottes, mit seiner Menschenfreundlichkeit nicht zusammen. Und trotzdem bleibt die Frage: Wo aber, Gott, bist Du?

Wo ist Gott zu finden? Der Philosoph Theodor W. Adorno hat angesichts des Grauens von Auschwitz formuliert: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Dies hat er später modifiziert: „Es ist notwendig nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, weil auch in Auschwitz gedichtet wurde.“ Auf Gott bezogen formuliere ich dies so: Kann man nach Auschwitz noch beten? Ja, weil auch in Auschwitz gebetet wurde.

Gott ist da, wo Menschen leiden. Draußen auf den Straßen und in den Häusern. In vorderster Reihe. Bei denen, die um ihr Leben kämpfen. Auf den Intensivstationen oder in den Krankenhäusern. Und bei denen, die für sie alles geben: als Ärztin, als Pfleger, als Krankenschwester. Auch bei denen, die für uns Zuhause alles geben: in den Supermärkten, bei der Müllabfuhr oder den Energieversorgern. Gott ist draußen, auf den Straßen. Dort wo es unsicher ist, wo schützende Mauern fehlen, wo Schutzkleidung ausgeht und der Mundschutz nicht rechtzeitig geliefert werden kann. Da ist Gott zu finden. Und, wo bist Du, Mensch? Eine berechtigte Gegenfrage. Diese Frage gehört – wie die Gottesfrage – zu unserem unserer Geschöpflichkeit. Wo bist Du, Mensch?

An dieser Stelle müsste man die, die Verschwörungsmeinungen vertreten wie Xavier Naidoo, mal an seine alten Texte erinnern: „Was wir alleine nicht schaffen, das schaffen wir dann zusammen. Dazu brauchen wir keinerlei Waffen, unsere Waffe nennt sich unser Verstand.“

Ja, das glaube ich. Mit Verstand werden wir die sich breit erlebten Probleme und Sorgen angehen müssen, mit Kreativität und Zuversicht und Vertrauen, in Menschen und – wem es möglich ist – in Gott. Ich habe immer wieder neu eine Ahnung, wo ich die Gegenwart Gottes spüren kann. Ein Lied ist mir in diesen Tagen neu ans Herz gewachsen:

Jesus wohnt in uns‘rer Straße, ist ein alter Mann. Gestern bin ich ihm begegnet, und er kam mir sehr allein vor, und er sah mich an und sprach: Wer weiß denn schon, dass ich in dieser Straße wohn, gleich um die Ecke, nebenan?

Jesus wohnt in uns‘rer Straße, ist ne kranke Frau. Gestern bin ich ihr begegnet und ihr Haar war grau. Und es zitterten die Hände, und sie sah mich an und sprach: Wer weiß denn schon…

Jesus wohnt in uns‘rer Straße, ist ein Schlüsselkind. Gestern bin ich ihm begegnet, eiskalt pfiff der Wind. Und es stand am Zaun und weinte, und es sah mich an und sprach: Wer weiß denn schon…

Jesus wohnt in uns‘rer Straße, lebt hier seit der Flucht, gestern bin ich ihm begegnet, sah, dass er mich sucht. Und ich spürte seine Sehnsucht, und er sah mich an und sprach: Wer weiß, denn schon…

Jesus wohnt in uns‘rer Straße, hat keine Arbeit mehr, gestern bin ich ihm begegnet, das Leben ist nicht fair. Er erzählt von seinen Kindern und er sah mich an und sprach: Wer weiß denn schon…

Jesus wohnt in uns‘rer Straße, wohnt da ganz am End‘, und ich fragte: Du, wie kommt es, dass Dich keiner kennt? Gestern bin ich ihm begegnet, und ich sah ihn an und sprach:
Wer weiß denn schon, wer weiß denn schon, dass ich in dieser Straße wohn, gleich um die Ecke nebenan?

Und hier könnte Ihre Strophe entstehen: Jesus wohnt in meiner Straße, ist...

Ob die Gottesfrage damit geklärt ist, mögen Sie entscheiden. Meine Antwort habe ich gefunden. Ich schwöre auf die Würde des Menschen, weil in ihr die Ehre Gottes sichtbar wird.

Martin Wrasmann, Pastoralreferent der katholischen St. Altfrid-Gemeinde in Gifhorn, schreibt die monatliche KURT-Kolumne „Glauben & Zweifeln“. Beipflichtungen wie auch Widerworte sind stets willkommen. Leserbriefe bitte an [email protected].


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