Kolumne
Über Kafka und Verwaltung: Malte Schönfeld denkt in seiner Kolumne über die Tücken der Bürokratie nach
Redaktion Veröffentlicht am 25.10.2025
An diesem Wochenende wird ein neuer Landrat oder eine neue Landrätin für den Landkreis Gifhorn gewählt. Für unseren Redaktionsleiter Malte Schönfeld ist dies Anlass, um über Bürokratien und Verwaltungen nachzudenken.
Foto: ChatGPT
Wenige Wochen vor der Landratswahl in Gifhorn muss ich gehörig über Bürokratie nachdenken. Man sagt, sie begegne einem überall. Man fordert, die Zettelwirtschaft müsse abgeschafft werden. Man ruft nach Digitalisierung und Abbau. Alle Parteien schlagen das vor, seit Jahren. Und doch weiß ich gar nicht so genau, was mit Bürokratisierung eigentlich gemeint ist. Trotzdem habe ich regelrecht Panik vor ihr. Man nennt das auch: Verwaltungsphobie.
Als ich in der Corona-Hochzeit abends durch die bürokratisch leerbestimmte Stadt spazierte, hörte ich die Tagebücher von Franz Kafka. Da wird einem ja so einiges klar. Gar alles klar. Das Individuum ist den selbstgeschaffenen Mechanismen der Gesellschaft Opfer geworden. Während zuvor der Einzelne und seine Wünsche effibriestig durch die Konventionen der Ständegesellschaft zerquetscht wurden, stellt sich später die Machtlosigkeit vor dem unsichtbaren Apparat und seiner Unfehlbarkeit als krankmachend heraus.
Heute kennen vor allem Selbständige dieses unüberwindbare Regelschattenreich, das haben sie mit jungen Familien, Arbeitslosen und den Geflüchteten gemein. Schlimm ist, wie die Sprache der Bürokratie zu etwas eigenem geworden ist; sie steht im Verhältnis zur echten Sprache wie Krieg zu Politik. Spricht man mit Mitarbeitern der Verwaltung, kratzen auch sie sich am Kopf: Keine Ahnung, wieso wir das so machen müssen, das sind aber die Vorgaben. Wie soll sich jemand, der neu ins Land gekommen ist und üblicherweise die Sprache nicht versteht, zu verhalten wissen, wenn sogar der Muttersprachler Sprachbarrieren erlebt?
Tatsächlich gibt es doppelte Kontrollinstanzen, dem Föderalismus geschuldet überlappende Zuständigkeiten und eine unterschiedlich fortgeschrittene Digitalisierung. Was die eine Samtgemeinde in einer digitalen Datenbank gesammelt hat, fordert die zentrale Annahmestelle weiterhin in Form eines fetten Aktenordners. Jeder Vorschlag von Deregulierung ist per se ein weiterer Maßnahmenkatalog, der eine ehemalige Anweisung rückabwickelt und dafür neue Paragraphen aufruft. Was zum Normenkontrollrat?
Nach einem Jurastudium arbeitete Franz Kafka bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt und setzte sich für Unfallverhütungsvorschriften ein. Da liegt auch der Humor begraben: Er wandelte kenntnisreich durch die Welt der Gesetze und schien trotzdem ihre Gewalt zu spüren. Beim armen Josef K.
Ganz so leicht ist es dann aber doch nicht. Denn die Bürokratie schützt uns vor der gewinnmaximierenden Privatisierung, die liberaler Traumvorstellung nach alles über den heiligen, superinnovativen Markt regelt – siehe Bahn und Gesundheitssektor. Und sie ist uns Schild gegen den Staat selbst, wie wir nun in den USA sehen. Denn: Schilderungen alleine reichen nicht, um gesellschaftliche Gerechtigkeit und Teilhabe zu sichern. Es braucht auch die Prozesshaftigkeit und das endlose Register, das geölte Räderwerk.
Wie viel Geld durch Reformen gespart werden kann, ist verglichen mit dem Haushalt gering. Was aber hängenbleibt, ist eine Vereinfachung des Alltags. Und das könnte den Bürger mehr mit dem politischen System versöhnen. Vielleicht stelle ich dafür einen Maßnahmenkatalog zusammen, um mich mutig der Verwaltungsphobie zu stellen.