Kopfüber
Über den wahren Bahnsinn: KURT-Kolumnist Malte Schönfeld ist sauer über die strukturellen Zustände und politischen Versäumnisse
Malte Schönfeld Veröffentlicht am 01.06.2023
Die Wut steht ihm ins Gesicht geschrieben: Malte pendelt täglich und wird täglich von der Bahn enttäuscht.
Foto: Malte Schönfeld
„...heute circa 40 Minuten später, Grund dafür ist eine Verspätung aus vorheriger Fahrt“, ist das erste, was ich höre, als ich am Bahngleis meine Kopfhörer abnehme. Ich setze mich. Beide Füße nebeneinander. Kalte Hände in den Hosentaschen. Den Schal zweimal um den Hals gewickelt. Also wieder warten. Verdammter Zug. Wie kann etwas so wenig funktionieren? Drecksverbindung. 100 Minuten Verspätung für eine 39-Minuten-Fahrt.
Ein Mann spricht mich an: „Ich sitze seit einer Stunde hier.“ Man sieht ihm an, er möchte etwas in Gang bringen, einen Mülleimer umtreten oder anzünden, mit Steinchen auf Tauben, wieder mit dem Rauchen anfangen, sowas. Es ist jetzt der dritte Tag in Folge, an dem ich warten muss. Wann der Zug kommt, ob der Zug kommt, ist kompletter Zufall. Wer Zug fährt, ist nichts wert. Der Mann schüttelt den Kopf, fährt sich durch das schüttere Haar.
Es ist ein strukturelles Problem. Es gibt zu wenig Schienen, zu wenig Mitarbeiter, kaum Lokführer. Für die paar Mark würde ich das auch nicht machen wollen. Das System ist am Arsch. Und es liegt nicht daran, dass das Geld fehlt. Es liegt ausschließlich daran, dass nicht investiert wurde. Dornröschenschlaf. Und dann im Albtraum aufwachen. Eigentlich irre, dass so selten Leute in der Bahn durchdrehen. Durchsage, halbe Stunde Verspätung, zack, ein beherzter Griff zum Rettungshammer, jetzt ist Bambule, ausholen, einklatschen, Zeichen setzen – „ICH WILL DEN CHEF SPRECHEN!“
Wobei, die Verrückten, die Abgedrehten, die eine Zugfahrt noch als Amusement begreifen, die gibt‘s ja. Letztens stieg morgens einer ein, Sonnenbrille, Bierdose, Lautsprecher, erst Bekennervideos vom „Islamischen Staat“, dann Hitler-Reden, wenn man ihm was zu Gute halten möchte, dann die einheitliche Setlist.
Das Schlimme ist: Man weiß ja gar nicht, auf wen man sauer sein soll. Auf den Lokführer und die Fahrkartenkontrolleurin jedenfalls nicht. Das sind ja selbst arme Schweine. Kriegen ständig unseren Muff ab, wenn die Bahn wieder irgendwo zwischen Hamburg und Gifhorn steht. Kein Getränk dabei, kein Obst, kein gar nichts, trockene Heizungsluft, die nach Staub riecht, niemand, der sich erkundigt, Einzelkampf im Ausharren, Menschen könnten in ihren Sitzreihen bewusstlos werden, niemand würde es bemerken.
Nein, auf die Arbeiter bin ich nicht sauer. Und grundsätzlich kann ich meine Wut auf kein Gesicht kanalisieren. Wer ist denn Schuld? Der Verkehrsminister Wissing? Die Politiker in Berlin? Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn? Der Vorstand der Metronom Eisenbahngesellschaft? Ich habe doch keine Ahnung!
Derzeit dauert es im Schnitt 20 Jahre, bis ein Schienen-Großprojekt umgesetzt ist, lese ich im Handelsblatt, kurz vor Rötgesbüttel. Zwei Drittel davon seien Planungszeiten, während die eigentliche Bauphase im Schnitt etwa sieben Jahre dauert. Wir tuckern in Schrittgeschwindigkeit. Ich schaue aus dem Fenster. Fünf Meter von uns entfernt stehen vier Rehe in einem Waldstück und gucken mitleidig. Zwei Schüler lassen sich von der Schaffnerin Entschuldigungen für die Schule beglaubigen.
Vielleicht ist die Antwort aber auch gar nicht so schwierig. Ich stoße auf eine Forderung unseres Landrats Tobias Heilmann an Verkehrsminister Wissing: „Die Realisierung der A 39 ist das wichtigste Infrastrukturprojekt für die gesamte Region und den Anschluss unserer ländlichen Region an das überregionale Autobahnnetz. Ich sehe viele Synergieeffekte für die Ansiedlung von Unternehmen, die wir dringend brauchen.“
Ja Mensch, dann kaufe ich mir mal ganz schnell ein Pferd und reite in die Zukunft.