Weihnachten in Gifhorn

So manch Geschenk braucht eben ein bisschen länger - Die große KURT-Weihnachtsgeschichte

Marieke Eichner Veröffentlicht am 26.12.2021
So manch Geschenk braucht eben ein bisschen länger - Die große KURT-Weihnachtsgeschichte

Zum Weihnachtsfest erstrahlt die St. Nicolai-Kirche am Gifhorner Markplatz in einem ganz besonderen Glanz.

Foto: KURT Gifhorn

Ich hab mich freiwillig dafür gemeldet. Fürs Schreiben der Weihnachtsgeschichte. Warum noch mal? Mit Weihnachten hab ich doch gar nichts am Hut. Ans Christkind glaub ich schon lange nicht mehr – mit meinem Verhältnis zur Kirche verhält‘s sich ähnlich. Und ausgerechnet ich wollt für Weihnachtsstimmung sorgen? Jesus, Maria und Josef Stalin! Na gut. Also: Weihnachten – was war das noch?

„Wann wird es denn endlich dunkel?!“, fragt sich das kleine Mädchen. Mama hat gesagt, wenn‘s dunkel ist, geht’s los. Aber das kleine Mädchen hat schon dreimal vor die Tür der St. Nicolai-Kirche geguckt – und trotzdem ist nichts passiert. Wie lange noch? Also läuft es zurück, Slalom um die Beine der großen Erwachsenen, rennt dabei fast noch eine Omi um und findet schließlich Mama wieder. Die hat schon wieder jemanden getroffen, den sie kennt. Oder der sie kennt. Mama kennt viele Menschen. Und viele Menschen kennen Mama. Bei Papa ist das auch so. Das ist doof, weil dann muss man immer warten und still sein, bis die Erwachsenen fertig geredet haben. Aber das kleine Mädchen ist so aufgeregt, dass es heute nicht lieb und nett sein kann.
„Wie lange noch?“, unterbricht das kleine Mädchen das Gespräch der Erwachsenen. Die Frage stellt es schon zum 23. Mal, seit sie heute Nachmittag aufgebrochen sind; und zum 34. Mal, seit es heute – an Heiligabend – aufgewacht ist.

„Nicht mehr lange, Schatz. Noch 15 Minuten“, sagt Mama und krempelt dem kleinen Mädchen die Pulloverärmel hoch. Die rutschen immer runter, weil der noch zu groß ist. Aber das kleine Mädchen wollte ihn unbedingt anziehen, den großen roten Pulli mit Ernie drauf. Weil Weihnachten ist. Und weil Ernie der Coolste aus der Sesamstraße ist.

KURT-Weihnachtsmann und Herausgeber Bastian Till Nowak brachte dereinst ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk.

Foto: Cornelius vom Hofe

„Das hast Du vorhin auch schon gesagt“, mault das Mädchen, während Mama ihm den hellblonden Haarzopf auf dem Kopf zurechtrückt. Also so langsam wird ihm das echt zu doof hier. Jetzt muss es endlich losgehen. Das Krippenspiel. Und das Liedersingen.

Das Mädchen liebt die Weihnachtslieder, die kennt es schon von Rolf Zuckowski. Und wenn nachher die Geschichte mit Jesus fertig ist und alle Lieder gesungen wurden, dann geht’s nach Hause, wo Papa schon wartet. Dann kommt der Weihnachtsmann! Und wenn das kleine Mädchen ganz, ganz fest daran glaubt, dann schneit es in diesem Jahr bestimmt!

Aber wann geht es endlich los? Wie lange noch?! Das Mädchen klettert auf die Holzbank neben Mama. Und da endlich – endlich, endlich, endlich – tutet es aus den langen Röhren in der bunten Schrankwand raus. Der Kindergottesdienst beginnt. Draußen ist es dunkel. Und es schneit.

Exakt 17 Jahre und sechs Stunden später. Statt hellblonder Palmenfrise und Ernie-Pulli trägt das Mädchen schwarze Klamotten, das Haar ist blau. Auf dem Papier ist es erwachsen und sitzt an diesem späten Heiligabend mit seinem Bruder und dem besten Freund im Flax. Durch die Rauchschwaden dröhnt „Fairytale of New York“ von den Pogues, das Mädchen summt mit, ascht ab und sieht das nächste bekannte Gesicht von früher durch die Tür der Kneipe stolpern. „Boah, den würd’ ich jetzt nur österreich-ungern treffen“, meint es zu ihren Begleitern. Beide lachen.

Der Whisky auf dem Tisch ist nicht der erste. Weihnachten mit geschiedenen Eltern ist definitiv ein Auslöser für Alkoholismus. Für alle Seiten. Da ist sich das Mädchen sicher. Da müsste mal jemand ‘ne Studie zu machen!

Das Mädchen legt ihre These vor und das Thema wird angeregt diskutiert. Aus Rolf Zuckowski, Krippenspiel, Weihnachtsmann und der unbändigen Hoffnung auf Schnee sind penible Zeitplanung, einsame Eltern, gestresste Kinder und Klimawandel geworden. Aber hier, an diesem späten Weihnachtsabend, da fühlt es sich doch irgendwie schön an.

Ein Mann tritt an den Tisch. Mit seinen grauen Lockenhaaren und dem Bart sieht er ein bisschen aus wie Karl Marx. Ob sie vielleicht einen Nebenjob suche? Das Team der Kneipe brauche Verstärkung und sie passe hier rein. Tatsächlich braucht das Mädchen noch einen zweiten Nebenjob.

In der Kultkneipe Flax nimmt die Geschichte an einem späten Heiligabend im Jahr 2017 die entscheidende Wendung.

Foto: Marieke Eichner

Neun Monate später ist Herbst, ein Dienstag – und damit Quizabend im Flax. „Sag mal, Du willst doch Journalistin werden“, meint ein Stammgast am Tresen. Das Mädchen mag ihn, er ist aufgeweckt, nie um einen Spruch verlegen und sein Tattoo von Jim Morrison findet es cool. Es bejaht und da reicht ihm der Mann einen Zettel. „Ruf da mal an.“ Das Mädchen strahlt.

Vier Monate und ein Weihnachten später hat das Mädchen bereits ein paar Artikel für die Lokalpresse geschrieben. Gerade steht es wieder hinter der Theke und gegenüber sitzt ein blonder Mann. Der hat ein sehr markantes Lachen. Eigentlich ist es auch mehr ein Kichern, fast kindlich. Der Mann lacht, als hätte er gerade jemandem einen herrlich lustigen Streich gespielt. Ein paar Mal hat das Mädchen ihn schon im Flax bedient und wegen seiner dort ausgelebten Frohnatur war er ihm gleich sympathisch.

„Sag mal, hast Du nicht Lust für uns zu schreiben?“, fragt der Mann. „Wer ist denn uns?“, erwidert das Mädchen. Der Mann greift zum Magazin, das auf der Theke liegt, und sagt bloß ein Wort: „KURT.“

Ein Jahr und zehn Monate später sitzt das Mädchen in der Redaktion. Es ist Dezember, es soll eine Weihnachtsgeschichte schreiben. Warum noch mal hat es sich freiwillig dafür gemeldet? Lang ist’s her, dass es eine Kirche von innen gesehen hat – zumindest während eines Gottesdienstes. Und auch wenn aus einsamen Eltern und einem gestressten Geschwisterpaar mittlerweile zwei fröhliche Patchwork-Familien inklusive herzlich-verrückter Stiefgeschwister und entspannter Weihnachtsfeiertage geworden sind: Gefühlsduselig wird das Mädchen bei dem Gedanken ans Christfest nun nicht gerade.

Weihnachten – was war das noch? Die Frage schwirrt dem Mädchen durch den Kopf, während es krampfhaft versucht in weihnachtlich-festliche Stimmung zu kommen. „Weihnachten – was war das noch“ – ist das nicht eine Zeile aus einem dieser alten Rolf-Zuckowski-Lieder? Fix gegoogelt, tatsächlich. Ach ja, der Rolf. Den hat das Mädchen früher rauf und runter gehört, konnte gar nicht erwarten, bis Papa endlich die Weihnachtssachenkisten mit den drei Kassetten vom Dachboden holte. Beim Kindergottesdienst in der St. Nicolai-Kirche konnte es – Rolf sei Dank – sogar fröhlich und ungeniert laut einige Lieder mitsingen.

Wie sich Weihnachten doch seitdem verändert hat. Das Mädchen dachte immer, es sei überflüssig, so ein großes Ding aus diesem „Fest der Liebe“ zu machen, sobald die Kindheit vorbei ist – oder keine eigenen Knirpse durchs Haus toben.

Jedoch, während der altbekannte Rolf-Zuckowski-Ohrwurm so durch seinen Kopf schallt, da denkt das einst so kleine Mädchen an den kindlichen Zauber des Heiligabends. An das dumpfe Ziehen im Herzen, wenn dieser Zauber dem Erwachsenwerden zum Opfer fällt. Und daran, dass seine Chronologie der Weihnachtsfeste das Mädchen letztlich an seinen Schreibtisch in der KURT-
Redaktion geführt hat. So manch Weihnachtsgeschenk braucht eben ein bisschen länger.


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