Glauben & Zweifeln
Die Würde des Menschen ist tastbar - Zur Verlegung der ersten Stolpersteine in Gifhorn müssen wir uns fragen: Reicht das?
Martin Wrasmann Veröffentlicht am 24.10.2021
„Es gibt keine tragfähige Zukunft, ohne das Erinnern“, meint KURT-Kolumnist Martin Wrasmann angesichts der Verlegung der ersten Stolpersteine in unserer Stadt.
Foto: Mel Rangel
Die Verlegung der ersten neun Stolpersteine in Gifhorn hat bei mir die Frage aufgeworfen: Reicht das? Reichen Mahnung und Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis, um für eine tolerante und offene Gesellschaft gewappnet zu sein? Oder was braucht es noch? Auf der Suche nach Antworten gerate ich ins Stolpern und stoße an Gedanken wie diese: „Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung.“
„Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung“ – dieser Satz aus dem Talmud ist für mich prägend und leitend für unsere Initiative zu den Stolpersteinen. Es gibt keine tragfähige Zukunft ohne das Erinnern und jedes Erinnern an die Gräueltaten gegen die Juden und Jüdinnen sowie weitere Opfer der Nationalsozialisten ist Mahnung zugleich.
Wie sehr diese Erinnerungskultur wichtig ist, zeigen die vergangenen Wochen, Monate, ja Jahre. Eine Verurteilung des Antisemitismus ist heute – auch in Erinnerung an Auschwitz, Birkenau, Bergen-Belsen et cetera – relativ billig zu haben. Was wir brauchen ist ein Zeugnis der Solidarität mit den Juden, die es bisher nicht gab, sonst wäre Auschwitz gar nicht erst möglich gewesen. Gegenüber den Jüdinnen und Juden sind wir in der Position des Schuldners. Es halten einige für allzu menschlich, wenn wir die grauenhafte Vergangenheit begraben wollen und manche der jungen Generation mit einem Achselzucken darüber hinweggehen: Was haben wir damit zu tun? Und auch die christlichen Kirchen müssen sich fragen: Wo war Gott in Auschwitz? War er nicht sichtbar, weil Christinnen und Christen ihm ihre Hand versagt haben? Muss die Frage nicht lauten: Wo war der Mensch – wo war unsere Gesellschaft – in Auschwitz?
Aus einer Erinnerungskultur muss eine Handlungskultur erwachsen, Gedenktage und Gedenkorte sind das eine, die Stolpersteinaktionen mit ihrer großen Aufarbeitung der jüdischen Vergangenheit, auch in Gifhorn, sind dringend notwendig – glaubhaft wird diese Kultur jedoch erst, wenn sie sich messen lässt an dem Grad der Menschlichkeit im Hier und Jetzt, am Umgang mit Minderheiten und Andersartigkeit. Ist der Artikel 1 unseres Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – noch das Faustpfand für unsere Demokratie? Ich finde, die Bewährungsprobe dieses Postulates stellt sich in seiner Abwandlung: Die Würde des Menschen ist tastbar, sie muss gefühlt, sie muss anschaulich werden und sich in konkretem Handeln beweisen.
Martin Wrasmann legt weiße Rosen am Stolperstein für Berta Müller in der Gifhorner Torstraße nieder.
Foto: Mel Rangel
Der Umgang mit Geflüchteten ist ein Gradmesser für die Tastbarkeit von Würde. Auch die Art und Weise, wie wir mit dem Klima umgehen, liegt in der DNA einer Gesellschaft, die aus der Vergangenheit gelernt hat und sich um die Würde aller Menschen sorgt. Und nicht zuletzt ist auch eine Politik zu einer weltweiten Gerechtigkeit Ausdruck eines Lernprozesses, die erklären muss, warum ein Land wie Deutschland 9,4 Prozent des gesamten Haushalts für Verteidigungsausgaben, aber nur 2,5 Prozent für die gesamte Entwicklungshilfe aufbringt. Auch die Impfstoffverteilung lässt nichts Gutes hoffen auf einen wirklichen Lernprozess im Sinne einer Umkehr. Gerade an diesem Punkt wird deutlich, dass nationale Interessen großen Vorrang haben vor der Frage, wie die Weltgemeinschaft die großen Hürden zu einer gerechten Welt überwinden will.
Dass täglich 25.000 Menschen an Hunger sterben, zeigt doch, wie sehr die Sicherung des Nationalen vor aller Bekämpfung des Ausmaßes weltweiter Ungerechtigkeit steht. Hier geht es ganz konkret um die Tastbarkeit von Würde.
Eine Erinnerungskultur muss das Ausmaß der grausamen Verbrechen wachhalten, die Stolpersteine können zum Mahnmal werden, aber auch zu einem Bewährungsort, an dem wir ins Stolpern geraten, wenn Dinge aus dem Ruder laufen.
In Gifhorn liegen jetzt neun Steine, die hoffentlich vieles und viele ins Stolpern bringen. Ich jedenfalls möchte nicht, dass jemand wieder in eine Situation kommt, wie jener jüdische Flüchtling, der an eine Kellerwand in Köln schrieb: „Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.“
Martin Wrasmann, katholischer Theologe aus Gifhorn, schreibt die monatliche KURT-Kolumne „Glauben & Zweifeln“. Als ein Sprecher des Gifhorner Bündnisses „Bunt statt braun“ gehört er zu dem Team ehrenamtlicher Menschen, welche die Verlegung der ersten neun Stolpersteine in unserer Stadt vorangetrieben und die dahinter stehenden Biographien erforscht haben. Beipflichtungen wie auch Widerworte sind stets willkommen. Leserbriefe gerne an redaktion@kurt-gifhorn.de.