Stolpersteine

Kein Entkommen nach dem Gifhorner Gutachten: Noch in Hannover wird Arthur Lehmann behördlich verfolgt und verstümmelt

Steffen Meyer Veröffentlicht am 15.07.2025
Kein Entkommen nach dem Gifhorner Gutachten: Noch in Hannover wird Arthur Lehmann behördlich verfolgt und verstümmelt

Für Arthur Lehmann wurde dieser Stolperstein auf dem Gelände der Diakonie Kästorf verlegt.

Foto: Mel Rangel

Die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn ist dreistellig. Stolpersteine in unserer Stadt erinnern an sie. Die Biographien stellt KURT in einer Serie vor. In einem Gastbeitrag schildert Dr. Steffen Meyer, Historiker und Archivar der Dachstiftung Diakonie, diesmal die Geschichte von Arthur Lehmann. Unverheiratet und kinderlos kam er als Wanderarbeiter in die Kästorfer Arbeiterkolonie, wo ihn nach wenigen Wochen ein Sterilisationsgutachten wegen „angeborenen Schwachsinn“ erreichte. Vollzogen wurde die Unfruchtbarmachung ein Jahr später in Hannover.

Hermann Arthur Lehmann wurde am 26. Oktober 1899 in Trachenau geboren. Während über seine Kindheit und Jugend nichts bekannt ist, sind die Angaben über seine Eltern in den überlieferten Akten und Personenstandsunterlagen widersprüchlich. Sehr wahrscheinlich waren aber sowohl der Vater als auch die Mutter bereits gestorben, als der damals 35-jährige ungelernte Wanderarbeiter Arthur Lehmann am 7. November 1934 das erste Mal in der Arbeiterkolonie Kästorf eintraf.

Lehmann, der unverheiratet und kinderlos war, hatte sich aus Suderwittingen kommend auf den Weg nach Kästorf gemacht. Nach drei Wochen verließ Lehmann die Einrichtung wieder, um eine Tätigkeit in Wilsche aufzunehmen, kehrte aber bereits am 28. November zurück in die Arbeiterkolonie.

Hier wurde er am 9. Januar 1935 auf Weisung des Anstaltsvorstehers Martin Müller von Landesmedizinalrat Dr. Walter Gerson psychiatrisch untersucht. Gerson bezeichnete Lehmann als „erheblich schwachsinnigen, asozialen Landstreicher“, der seit vielen Jahren auf der Straße lebe und wegen Bettelei bereits mit der Polizei in Berührung gekommen sei. Gerson diagnostizierte „angeborenen Schwachsinn“ und erstellte ein Sterilisationsgutachten, das Müller an das zuständige Gesundheitsamt Gifhorn weiterleitete.

Kolonisten verlassen ihre Wohnräume im sogenannten Langen Jammer. Links davon das Uhrenhaus, um 1905.

Foto: Sammlung Archiv der Dachstiftung Diakonie

Von dort aus beantragte Amtsarzt Dr. Bernhard Franke am 25. Januar 1935 die Unfruchtbarmachung von Arthur Lehmann beim Erbgesundheitsgericht Hildesheim. Was Franke nicht wusste: Einen Tag zuvor hatte Lehmann die Arbeiterkolonie verlassen, um erneut auf Wanderschaft zu gehen. Anstaltsvorsteher Müller gefiel das nicht, aber ihm fehlte zu diesem Zeitpunkt die gesetzliche Grundlage, Lehmann gegen seinen Willen bis zum Abschluss des Sterilisationsverfahrens festzuhalten.

Das Erbgesundheitsgericht Hildesheim beschloss die Unfruchtbarmachung von Arthur Lehmann am 1. März 1935 und begründete dies mit wörtlich übernommenen Passagen aus Gersons Gutachten und dem Ergebnis eines von ihm durchgeführten Intelligenztests, der ein „völliges Versagen im Rechnen“ ergab. „Auch das allgemeine Lebenswissen und die sittlichen Allgemeinvorstellungen sind sehr mäßig“, so das Gericht in seinem Beschluss.

Wenige Tage später wurde Arthur Lehmann zur Fahndung ausgeschrieben und von der Polizei „zum Zwecke der Unfruchtbarmachung“ monatelang steckbrieflich gesucht. Erst im Dezember 1935 gelang es einer Polizeidienststelle in Hannover, ihn festzusetzen. Ob Lehmann wissentlich untergetaucht oder als wohnungsloser Wanderarbeiter einfach schwer zu finden war, muss unklar bleiben, aber die Überführung aus der Schutzhaft in das Städtische Krankenhaus 1 in der Haltenhoffstraße in Hannover erfolgte schnell. Zwei Wochen nach seiner Ergreifung wurde Arthur Lehmann am 24. Dezember 1935 unfruchtbar gemacht. Vier Tage später durfte er das Krankenhaus verlassen, danach verliert sich seine Spur.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus geht weiter.
Hinweise sammelt das Kulturbüro:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


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