Stolpersteine

Wilhelm Fink begehrt gegen Nazi-Gericht auf: Beschluss zur Unfruchtbarmachung wird fünf Jahre später vom Erbgesundheitsgericht aufgehoben

Steffen Meyer Veröffentlicht am 02.04.2024
Wilhelm Fink begehrt gegen Nazi-Gericht auf: Beschluss zur Unfruchtbarmachung wird fünf Jahre später vom Erbgesundheitsgericht aufgehoben

Mehrere Jungen des Erziehungsheims Rischborn in Kästorf mit Hausvater Albert Hellwig im Aufenthaltsraum im Jahr 1938.

Foto: Sammlung Archiv der Dachstiftung Diakonie

Mut und Geduld waren wohl die wichtigsten Eigenschaften von Wilhelm Fink, um für die Ehe mit seiner Geliebten und gegen den einstigen richterlichen Beschluss zur Unfruchtbarmachung aufzubegehren. Wie viele Bewohner des Kästorfer Erziehungsheims Rischborn auch wurde dem jungen Mann zuvor „angeborener Schwachsinn“ diagnostiziert. Seine Biographie erzählt Dr. Steffen Meyer, Archivar in der Historischen Kommunikation der Dachstiftung Diakonie, in einem Gastbeitrag. Denn auch die Zahl der Gifhorner Opfer im Nationalsozialismus ist mindestens dreistellig.

Wilhelm Fink wurde am 10. September 1914 in Göttingen geboren und wuchs als Einzelkind bei seinen Eltern auf. Er besuchte eine Hilfsschule in Göttingen und verließ diese nach der zweiten Klasse, weil er laut Akte aufgrund seiner Gewalttätigkeit in der Schule nicht mehr tragbar war.

Im Jahre 1929 starb sein Vater und der zunächst von seiner Mutter allein erzogene Wilhelm wurde einige Monate später vom Göttinger Jugendgericht vorgeladen. Der Richter verurteilte den 15-jährigen Jungen wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 20 Mark oder wahlweise vier Tage Gefängnis. Zusätzlich ordnete das Gericht eine zweijährige Fürsorgeerziehung als Erziehungsmaßregel an. Es folgten anschließend zwei weitere Verurteilungen wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und Diebstahl, bevor Wilhelm im September 1932 in das Provinzial-Erziehungsheim Göttingen für schwererziehbare Jugendliche eingewiesen wurde. Dort konnte der in der Stadt Göttingen bekannte Junge nicht bleiben, wie Anstaltsleiter Walter Gerson in einem Gutachten vermerkte, und man überstellte ihn zur weiteren Beobachtung in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Langenhagen.

Von dort kam Wilhelm Fink am 9. Januar 1934 in das Erziehungsheim Rischborn, wo er zwei Monate später während einer psychiatrischen Untersuchung wieder auf seinen ehemaligen Anstaltsvorsteher aus Göttingen traf, Psychiater Walter Gerson. Gerson untersuchte Fink am 7. März in seiner Funktion als Landesmedizinalrat und fertigte als Ergebnis ein Sterilisationsgutachten an. Den kräftigen und mit zahlreichen Tätowierungen versehenen Jugendlichen bezeichnete Gerson als „roh und brutal, geistig nicht sehr begabt und moralisch tiefstehend“. Die Mutter von Wilhelm Fink bezeichnete Gerson als geistig beschränkt, wobei nicht klar ist, ob er sie überhaupt kannte oder nur aus Wilhelms Fürsorgeakte zitierte, was damals eine gängige Praxis war.

Da Gerson die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ stellte, musste er mit Wilhelm Fink einen Intelligenzprüfungsbogen durchgehen. Hier überraschte Wilhelm offensichtlich den Psychiater, denn er beantwortete fast alle Wissensfragen richtig, konnte Sprichwörter erklären oder die Rechenaufgaben so schnell lösen, dass Gerson entgegen seiner sonst üblichen Gepflogenheiten ein „flott“ oder „gut!“ am Rand des Bogens vermerkte. Das gute Testergebnis konnte laut Gerson aber nur zustande kommen, weil bei dem Jungen „schon häufig Intelligenzprüfungen vorgenommen worden sind“. Die Begründung konnte demnach lauten: „Wenn auch der Intelligenzdefekt nur mäßig ist, so ist doch bei seiner gemütsarmen, leicht erregbaren psychopatischen Veranlagung mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß seine Nachkommen an schweren geistigen Erbschäden leiden werden.“

Der Kästorfer Anstaltsvorsteher Martin Müller erstattete umgehend Anzeige beim Kreisarzt in Gifhorn und reichte die notwendigen Unterlagen für einen Antrag zur Unfruchtbarmachung gleich mit ein. Müller bat den Kreisarzt um eine beschleunigte Weiterleitung des Antrages an das zuständige Erbgesundheitsgericht, „da eine zu lange Zurückhaltung des Jugendlichen in der Anstalt aus pädagogischen Gründen nicht zweckmäßig“ sei. Bei ihrem Antrag könnten sie ja dann gleich, so Müllers Vorschlag, dem Gericht mitteilen, dass „die Erledigung dieses Falles besonders dringlich ist“. So kam es dann auch.

„Angeborener Schwachsinn“ lautete die Diagnose bei Wilhelm Fink. Kästorfs Anstaltsvorsteher Martin Müller leitete daraufhin einen Antrag zur Unfruchtbarmachung ein.

Foto: Archiv der Dachstiftung Diakonie, ADHK Nr. 658

Bereits am 12. April 1934 gingen die Unterlagen beim Erbgesundheitsgericht in Göttingen ein, das einen Monat später die Sterilisation wegen „angeborenen Schwachsinns“ beschloss. Die Begründung war kurz und knapp und bezog sich in fast allen Punkten auf das Gutachten von Walter Gerson. An manchen Stellen wurde auch einfach aus dem Gutachten abgeschrieben, der Intelligenzprüfungsbogen hingegen vernachlässigt und stattdessen Finks „asoziales Verhalten“ in den Vordergrund gerückt.

Im Juni 1934 wurde der Gerichtsbeschluss Wilhelm Fink und Anstaltsvorsteher Müller zugestellt. Nach der gängigen Praxis verzichtete das Erbgesundheitsgericht Göttingen darauf, dem Betroffenen seine Begründung mitzuteilen und klärte ihn nur über die bevorstehende Sterilisation auf. Kurz nach Zustellung des Beschlusses floh Wilhelm Fink aus dem Erziehungsheim Rischborn, um der drohenden Unfruchtbarmachung zu entgehen. Wahrscheinlich hielt er sich während seiner Flucht einige Tage in seiner alten Heimatstadt Göttingen oder Umgebung auf, denn nach seiner Ergreifung wurde er nicht nach Kästorf zurückgeschickt, sondern am 7. August 1934 in der Chirurgischen Universitätsklinik Göttingen sterilisiert.

Zehn Tage später kehrte Wilhelm Fink in das Erziehungsheim Rischborn zurück, wo er noch ein Jahr blieb. Am 21. August 1935, kurz vor seinem 21. Geburtstag und dem Erreichen der Volljährigkeit, wurde Fink entlassen und als landwirtschaftlicher Gehilfe zu einem Bauern in Dienst gegeben.

Einige Jahre später wurde Wilhelm Fink wieder aktenkundig. Im Februar 1938 erkrankte er während seines Militärdienstes und musste zur Beobachtung in ein Braunschweiger Lazarett eingewiesen werden. Hier kam es zu einer bedeutsamen Begegnung mit dem zuständigen Militärarzt. Dieser teilte dem mittlerweile 23-jährigen Fink nach einigen Untersuchungen mit, dass er nicht, wie aus seiner Krankenakte hervorging, an Schwachsinn leide.

Nach seinem Militärdienst arbeitete Wilhelm Fink südöstlich von Göttingen bei verschiedenen Bauern. Im Herbst 1938 wurde er als Melker auf dem Gut Elbickerode angestellt. Dort lebte auch die Magd Ottilie Ehrhardt, mit der Wilhelm Fink liiert war. Da das Paar heiraten wollte, beantragte Fink am 27. Oktober 1938 die Wiederaufnahme seines Sterilisationsverfahrens beim Erbgesundheitsgericht Göttingen. Dies war nötig, weil das 1935 erlassene „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ allen Sterilisierten die Heirat mit „erbgesunden“ Menschen verbot und nur ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren und die damit verbundene Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses das ändern konnte.

Wenn ein Erbgesundheitsgericht eine Unfruchtbarmachung beschlossen hatte, sich aber vor der Durchführung des Eingriffs Umstände ergaben, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhaltes erforderten, war laut Gesetz das Verfahren wieder aufzunehmen und die Ausführung der Unfruchtbarmachung auszusetzen. Umstritten war hingegen die Wiederaufnahme eines Verfahrens, wenn die Unfruchtbarmachung bereits durchgeführt wurde, so wie bei Wilhelm Fink. Für diese Fälle gab es keine gesetzliche Grundlage, wenngleich die Möglichkeit theoretisch bestand und einige der rund 200 Erbgesundheitsgerichte eine Wiederaufnahme nach erfolgter Unfruchtbarmachung zuließen. Für die Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens war der Nachweis zu erbringen, dass ein Erbgesundheitsgericht zu Unrecht eine Erbkrankheit festgestellt hatte. Mit der Vorlage neuer Dokumente und ärztlicher Gutachten mussten die Betroffenen alle Zweifel an ihrer „Erbgesundheit“ beseitigen – ein äußerst aufwendiges und seelisch belastendes Unterfangen mit geringen Erfolgsaussichten. Möglicherweise hat die Aussage des Militärarztes Wilhelm Fink darin bestärkt, den Antrag überhaupt zu stellen.

Am 27. Oktober 1938 registrierte das Erbgesundheitsgericht Göttingen den Antragseingang von Wilhelm Fink. Zunächst ließ es über verschiedene Polizeidienststellen feststellen, bei welchem Truppenteil Fink seinerzeit diente, als er im Lazarett behandelt wurde. Anschließend bekam er eine Vorladung und konnte sich vor Gericht zu seinem Fall äußern. Nach dieser Anhörung wurde sein Antrag auf Wiederaufnahme zugelassen und die Verhandlung zunächst zwecks weiterer Ermittlungen vertagt.

Das Gericht ließ sich daraufhin unter anderem das Krankenblatt des Standortlazaretts in Braunschweig und Finks Krankenakte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Langenhagen vorlegen. Über die Amtsgerichte und Gesundheitsämter nahm das Gericht außerdem Kontakt mit ehemaligen Arbeitgebern und Arbeitskollegen auf. Die Eigentümerin des Guts Elbickerode wurde ebenfalls um eine Aussage gebeten und äußerte sich positiv über die Arbeitskraft und das Sozialverhalten. Wilhelm Fink sei zwar nicht sehr klug, aber gutmütig und ehrlich, so die Gutsbesitzerin. Außerdem leisteten er und seine Lebensgefährtin gute Arbeit auf dem Hof und führten einen sauberen und ordentlichen Haushalt.

Die Beweisführung war nach rund vier Monaten abgeschlossen. Wilhelm Fink musste am 21. Februar 1939 erneut vor dem Göttinger Erbgesundheitsgericht erscheinen, wo er noch ein letztes Mal angehört wurde, bevor sich das Gericht zur Beratung zurückzog. Pikanterweise war der vorsitzende Richter des Wiederaufnahmeverfahrens derselbe, der 1934 seine Unfruchtbarmachung beschlossen hatte. Nach einer wenige Minuten dauernden Sitzung teilte das Gericht seine Entscheidung mit:

Dieser Stolperstein auf dem heutigen Gelände der Diakonischen Dachstfitung in Kästorf erinnert an Wilhelm Fink.

Foto: Mel Rangel

„Der Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Göttingen vom 25.5.1934, durch den die Unfruchtbarmachung des Wilhelm Fink angeordnet ist, wird wieder aufgehoben.“ In der Begründung hieß es: „Das Gericht, das 1934 auf Grund des Gutachtens des Erziehungsheimes Rischborn und der Krankengeschichte der Heil- und Pflegeanstalt in Langenhagen zu der Ansicht kam, dass Wilhelm Fink ein schwachsinniger Psychopath war, kann diese Ansicht insoweit nicht mehr aufrecht erhalten, als sich heute bei Wilhelm Fink zweifellos ein Schwachsinn auch nur leichten Grades nicht feststellen lässt. Wilhelm Fink zeigt sowohl ein ausreichendes Schul- wie Lebenswissen und er hat sich in seinem Beruf als Melker, wie die von ihm beigebrachten Zeugnisse und die eingeholten Auskünfte beweisen, durchaus zuverlässig und ordentlich gezeigt. So weit gelegentlich über ihn geklagt wird, erklärt sich das daraus, dass Wilhelm Fink ohne Frage ein Psychopath ist. Das allein kann aber die angeordnete Maßnahme der Unfruchtbarmachung nicht rechtfertigen. Es war deshalb der Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes vom 25.5.1934 wieder aufzuheben und der Antrag auf Unfruchtbarmachung zurückzuweisen.“

Der Gerichtsbeschluss war zwar nicht mit einer Entschädigung verbunden, ermöglichte Wilhelm Fink aber nun die Heirat mit seiner Lebensgefährtin. Interessanterweise endet seine Akte nicht mit dem Beschluss des Wiederaufnahmeverfahrens, sondern enthält noch einen Hinweis aus dem Jahr 1950. Fink beauftragte einen Rechtsanwalt, die Voraussetzungen eines Wiedergutmachungsantrages zu prüfen. Ob der Antrag aber tatsächlich gestellt wurde, geht aus der Akte nicht hervor. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt, auch die Suche nach Angehörigen war erfolglos.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf. Die Forschung zu Opfern des
Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro: kultur@stadt-gifhorn.de


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