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Dreister Trinkgeldzwang nun auch in der Region: Unser Kolumnist Malte Schönfeld versteht die Welt nicht mehr

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 23.11.2025
Dreister Trinkgeldzwang nun auch in der Region: Unser Kolumnist Malte Schönfeld versteht die Welt nicht mehr

Wer einen gewöhnlichen Kaffee bestellt und an der Theke abholt, wird nun schon halbwegs zu Trinkgeldzahlungen gezwungen. Das – und einiges mehr – passt unserem Redaktionsleiter gar nicht.

Foto: KURT Media via Dall-E

Vor kurzem erst spazierte ich durch die stahlkalten Designer Outlets in Wolfsburg, vorbei an den Stores von Haribo, Gant und Jack Wolfskin. Im Herzen des Shopping-Funparks traten ein Freund und ich in den Starbucks, ein „frisch gebrühter medium gerösteter Kaffee, mild, ausgewogen und aromatisch“ sollte es sein, zum Mitnehmen bitte. Lustig, wie der Freund mit gezückter Karte zahlen wollte, doch vorher auf dem Lesegerät zwei Trinkgeld-Aufforderungen entschieden ablehnen musste.

Es ist doch schon eine obszöne Einführung, deren Vehemenz beispiellos ist. Trinkgeld ohne über das Mindestmaß erlebten Service. Doch woher kommt diese Dreistigkeit?

In den USA gilt diese Form der Über-Gebühr-Bezahlung als Teil des Einkommens, denn der Lohn ist knapp und das Leben teuer. Anders gesagt: Der Kunde wird in sozial gelernter Höflichkeit zum Gehilfen des Bosses. Das ist schon mal doof, möchte man doch nur Kunde sein. Sowieso fragt man sich ständig: Was, wenn sich der sportliche Franchisenehmer-CEO mit meinem Tip einen Extra-Bonus einstreicht? How much is the coffee? Immer 10 Prozent mehr als eh schon. Yikes.

Allgemein erleben wir gerade eine unfassbare Umformung des Lohnbegriffs. Im thüringischen Landkreis Nordhausen will Landrat Matthias Jendricke (SPD) unausgebildete Bürgergeldempfänger unter 25 Jahren angezwangt in die Arbeit drängen. Sonst drohen Kürzungen um bis zu 30 Prozent. Sie sollen sich etwas dazuverdienen zum Bürgergeld – und zwar 1,20 Euro pro Stunde bei bis zu 40 Stunden Arbeit wöchentlich. Meine Rechnung: Nach einem Arbeitstag könnte man sich bei Starbucks entspannt einen Filterkaffee, ein Stück Blueberry-Lemon-Curd-Cheesecake und das Trinkgeld leisten.

Man fragt sich: Schneiden wir gerade noch mit, was mit unserem Wohlfahrtsstaat passiert?

Kanzler Friedrich Merz sieht sich als Superman zwischen Volkswirtschaftsretter und letzter echter Anpacker. Längere Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden pro Tag, das brauche es, um die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zur Weltspitze zurückzuführen. In Japan, wo traditionell mehr gearbeitet wird als erlaubt, nennt man das Karōshi: Tod durch Überarbeitung.
Wissenschaftlich fein argumentiert wurde zudem bei den möglichen Einsparungen in der angekündigten Grundsicherung durch Kürzungen: Noch vor einem Jahr klingelten für Thorsten Frei und Jens Spahn (beide CDU) schon die Staatskassen, 30 Milliarden Euro könne man einsparen, dann waren es plötzlich nur noch 10 Milliarden. Was mussten sich die „faulen“ Arbeitslosen beschimpfen und entwürdigen lassen. Heute wissen wir: Es können 0,086 Milliarden gespart werden. Ups. Kann das irgendwer mal schnell in Trinkgeld umrechnen?

Ein wertvoller Bürger scheint nur zu sein, wer auch leistet. Und geleistet werden kann nicht genug. Was uns eingetrichtert wird: Der Einzelne ist Schuld an der Rezession, ein klitzekleines bisschen mehr Entbehrungen noch, dann sind wir wieder wer.

Wünsche und Potentiale – vor allem der Jugend – zertrümmern, Talente bleiben ungefördert, alternative Lebensentwürfe verblassen. Die Folge: Niemand fragt sich mehr, wie wir eigentlich glücklich leben wollen. Und das ist hart.

Ich hätte gerne die Rechnung.


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