Erdbeben

Wenn einfach alles über Dir zusammenbricht: Die Gifhornerin Çağla Canıdar hat das Erdbeben in der Türkei von 1999 überlebt - und hofft heute auf den Sturz der Regierung Erdoğan

Çağla Canıdar Veröffentlicht am 17.03.2023
Wenn einfach alles über Dir zusammenbricht: Die Gifhornerin Çağla Canıdar hat das Erdbeben in der Türkei von 1999 überlebt - und hofft heute auf den Sturz der Regierung Erdoğan

Ayşe Deniz Kavur sendete ihrer Gifhorner Freundin Çağla Canıdar Fotos und Videos von der völligen Zerstörung durch das Erdbeben vom 6. Februar in der Türkei.

Foto: Ayşe Deniz Kavur

Zwischen Trümmern und Trauer macht sich große Wut breit: Mehr als 50.000 Tote wurden bereits geborgen, seit die Erde in der Türkei und in Syrien bebte. Die Katastrophe reißt neue und auch alte Wunden auf – so wie bei der Gifhornerin Çağla Canıdar (35), deren Eltern einst aus der Türkei nach Deutschland kamen. Hautnah erlebte sie als Kind das Erdbeben von 1999 mit, als sie mit ihrer Familie die Sommerferien bei der Großmutter verbrachte. Damals bröckelte das gesamte politische System der Türkei, Erdoğan und die neue AKP erstarkten. Von ihren Versprechungen ist nichts übrig, das Land liegt erneut in Trümmern. Die nächste Wahl könnte nun den von vielen lange erhofften Umbruch bringen.

Montag, 6. Februar 2023. Es ist 6 Uhr morgens. Ich werde langsam wach und schaue verschlafen auf mein Handy: „Erdbeben erschüttern Türkei und Syrien“. Mein Herz bleibt für einen kurzen Moment stehen, plötzlich bin ich hellwach. Wie schlimm es ist? Ich hatte ja keine Ahnung.

Den ganzen Vormittag hänge ich am Handy und lese Nachrichten, in meinem Kopf findet nichts anderes mehr Platz. Das Leben um mich herum geht weiter, mein Körper ist anwesend, meine Gedanken und mein Herz aber sind bei allen betroffenen Menschen und Tieren.

Auch Adana ist betroffen, die Heimatstadt meiner Mutter. Nachmittags sitze ich bei meinen Großeltern, meine Oma telefoniert mit der Verwandtschaft – kleine Erleichterung: Ihnen geht es gut. Doch die Angst sitzt tief. Der Cousin meiner Mutter berichtet, dass sie sich nicht in die Häuser trauen. Die Gefahr von Nachbeben ist zu groß. Sie schlafen im Auto. Die Nächte seien eisig, sagt er, die Kinder frieren.

Das Erdbeben reißt neue und auch alte Wunden auf – so wie bei der Gifhornerin Çağla Canıdar (35).

Foto: Çağla Canıdar

Wir – meine Großeltern, meine Eltern und ich – hingegen sitzen in Gifhorn wie gefesselt vor dem Fernseher und verfolgen die Nachrichten. Mein Opa weint. Auch ich kämpfe mit den Tränen, die noch häufig fließen sollen.

Die nächsten Tage und vor allem Nächte erscheinen mir unwirklich. Es fühlt sich falsch an, im Bett zu liegen unter einer warmen Decke, während Millionen Menschen genau in diesem Moment vor dem Nichts stehen und um ihre Geliebten bangen. Ständig schießen mir frühere Bilder durch den Kopf. Ich weiß, wie es ist, wenn Dein Haus über Dir zusammenstürzt und Du vor den Trümmern stehst.

Es war Dienstag, der 17. August 1999. Um eine Minute nach drei werde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich reiße die Augen auf und sehe die Sterne. Das Dach über mir war weg. Was ist passiert? Träume ich? Mein Onkel packt mich am Arm und zieht mich hoch, alles ist dunkel und verstaubt. Meine Mutter hält meinen fünf Jahre jüngeren Bruder fest in ihren Armen, mein Vater stützt meine Großmutter. Wir waren im Sommerurlaub in Adapazarı, der Heimatstadt meines Vaters.

Gemeinsam kämpfen wir uns durch einen engen Gang und steigen aus den Trümmern, die zuvor das Haus meiner Babaanne waren. So nannte ich meine Großmutter, die in der Türkei lebte. Im Schlafhemd sitze ich nun draußen, Menschen rennen umher, ihre lauten Stimmen übertönen alles und immer wieder fragen mich Fremde, wie es mir geht. Wahrscheinlich Nachbarn, denen ich am Tag zuvor noch beim Spielen auf der Straße begegnet war – doch ich erkenne sie nicht. Mein Bruder weint, mein elfjähriges Ich hingegen versucht Angst und Tränen in der Dunkelheit zu verbergen.

Die ersten Sonnenstrahlen: Wir sitzen noch immer auf der Straße, fassungslos. Das, was vom Haus meiner Großmutter übrig blieb, vor Augen. Mein Vater war darin aufgewachsen. Ich denke an die vielen Sommerferien, die ich hier verbrachte – und an die Feigen, die ich gemeinsam mit meinem Bruder vom Balkon aus pflückte. An den Tagen zuvor durchblätterte ich die Fotoalben, die meinen Vater als jungen Mann zeigten. Und jetzt ist alles unter Schutt begraben.

Kein Haus, das nicht beschädigt ist.

Foto: Ayşe Deniz Kavur

Das Erdbeben von Gölcük hatte eine Stärke von 7,6 und kostete 1999 mehr als 18.000 Menschenleben. Fast 50.000 wurden verletzt. Wir hatten Glück. Drei Nächte haben wir auf der Straße geschlafen. Immer wieder gab es schwächere Nachbeben. Ich legte meine Hand auf den Boden und spürte die Erschütterung.

Erst viele Jahre später begreife ich, welches Trauma wir damals durchlebt haben. Der 6. Februar 2023 reißt alte Wunden auf und fügt neue, schmerzvolle hinzu. In den Nachrichten heißt es, dass ganze Orte zerstört sind. Eine Freundin, die vor Ort ist, schickt mir Fotos und Videos. Es sieht alles noch viel schlimmer aus, als ich es mir vorstellen konnte. Sie berichtet mir von Straßenzügen, die zu Staub zerfallen sind. Von Gebäuden, die auf der Seite liegen. Kein einziges Haus, das nicht beschädigt ist.

Fast 24 Jahre sind seit dem Trauma von 1999 vergangen. 24 Jahre, in denen sich doch so viel bessern sollte. Untersuchungen zeigten damals, dass am Baumaterial gespart wurde. Bauvorschriften wurden ignoriert, der Katastrophenschutz war nicht ausreichend geschult und ausgestattet. Die Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit war am Ende.

Ich schaue mir alte Zeitungsartikel an. „Katiller“ titelte die Zeitung Hürriyet am 18. August 1999: „Ihr Mörder!“ Auch damals wurden Bauunternehmer beschuldigt, genauso wie heute – und das Vertrauen der Bevölkerung in „Vater Staat“ bröckelte stark. Eine sogenannte Erdbebensteuer sollte beim Wiederaufbau helfen; die Koalition zerbrach. Die nächsten Wahlen im Jahr 2002 krempelten das gesamte politische System der Türkei um. Keine der drei an der Regierung beteiligten Parteien schaffte es wieder ins Parlament. Sie und viele andere scheiterten an der hohen Sperrklausel von 10 Prozent. Die erst 2001 gegründete AKP erhielt die absolute Mehrheit.

Abdullah Gül wurde Ministerpräsident. Parteichef Recep Tayyip Erdoğan durfte wegen einer Verurteilung nicht an der Wahl teilnehmen. Doch durch eine Verfassungsänderung und die Annullierung der Wahl in der Provinz Siirt konnte er nachträglich ins Parlament einziehen – und löste Gül 2003 als Regierungschef ab. Die noch neue AKP – die selbsternannte „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ – trat mit großen Versprechungen an. Alles für die Türkei. Die Mehrheit im Land glaubte ihr.

Und jetzt? Fast ein Vierteljahrhundert später liegt das Land erneut in Trümmern. Vier Wochen sind inzwischen vergangen, seit ich morgens auf mein Handy starrte. Noch immer schmerzt mein Herz, noch immer schnürt es mir die Kehle zu.

„Onkel, das, was wir 1999 erlebt haben, wirkt jetzt klein“, sagte meine in der Türkei lebende Cousine zu meinem Vater am Telefon. Das Erdbeben vom 6. Februar 2023 im Südosten der Türkei und Norden Syriens erreichte eine Stärke von 7,8. Mehr als 50.000 Tote wurden bis heute geborgen, mehr als 120.000 Menschen sind verletzt, die Vermissten weiterhin ungezählt. Ganze Städte existieren nicht mehr.

Mehr als 50.000 Tote wurden bisher geborgen, mehr als 120.000 Menschen sind verletzt – und unzählige werden weiterhin vermisst.

Foto: Ayşe Deniz Kavur

23 Millionen Menschen sind laut der Weltgesundheitsorganisation von den Erdbeben betroffen. Tage, teils Wochen, warten sie verzweifelt in eisigen Temperaturen auf Hilfe. Für viele kommt
sie zu spät. Menschen graben mit bloßen Händen nach Verwandten, Nachbarn, Unbekannten. Die Hilfsbereitschaft der Zivilbevölkerung ist unaufwiegbar. Und die Regierung? Wo ist sie eigentlich?

Am dritten Tag trifft Staatschef Erdoğan im Epizentrum, im kurdisch-alevitischen Pazarcık, ein. Und er spricht von – Schicksal!

Doch es ist kein Schicksal, wenn Menschen tagelang unter Trümmern auf den Katastrophenschutz warten müssen oder gar keine Hilfe bekommen. Es ist kein Schicksal, wenn trotz anderslautender Gesetze wieder Baumängel dazu beitrugen, dass Gebäude nun einfach wie Kartenhäuser in sich zusammenstürzen. Wenn Milliarden Euro aus der Erdbebensteuer irgendwo versickern. Wenn nach solch einer Katastrophe nicht einmal die Grundversorgung sichergestellt wird und Überlebende kaum Wasser oder Zelte haben. Und es ist auch kein Schicksal, wenn Bauaufsicht und Justiz jahrelang wegschauen – wenn Korruption an der Tagesordnung ist und der umgekrempelte Staat versagt.

Fragt Eure türkischen, kurdischen, syrischen Freunde, Bekannten, Arbeitskollegen und Nachbarn, wie es ihnen heute geht. Ob sie ans Schicksal glauben. Oder ob auch ihre Verzweiflung sich in Wut umkehrt.

„Hükümet İstifa“ – die Regierung soll weg, fordern Menschen in Fußballstadien in Istanbul. Die Reaktion der Regierung: Drohungen und Stadionverbot.

Die Türkei feiert 2023 ihren 100. Geburtstag. Am 14. Mai wird wieder gewählt – das gesamte Parlament und auch der Präsident. Schon einmal hat ein Erdbeben über Erdoğans Karriere entschieden. Zeit, dass dies erneut geschieht.

Mitarbeit: Bastian Till Nowak


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