Bildung

Eine Schule, die Zukunft schreibt: Im Gespräch mit Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführung der Lebenshilfe Gifhorn

Redaktion Veröffentlicht am 28.06.2025
Eine Schule, die Zukunft schreibt: Im Gespräch mit Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführung der Lebenshilfe Gifhorn

So klappt Inklusion: Das Mensateam der Lebenshilfe Gifhorn sowie Schülerinnen und Schüler der Schule der Zukunft sind regelmäßig zu Gast in der Oberschule Papenteich in Groß Schwülper.

Foto: Michael Uhmeyer (Archiv)

„BE FREE“: Eingängiger könnte das Motto der Schule der Zukunft kaum sein – und das mitten in Gifhorn an der Wilhelmstraße. Die Schule der Zukunft, gegründet von der Lebenshilfe Gifhorn, ist jetzt offiziell staatlich anerkannt – und sie ist weit mehr als eine Förderschule. Hier wird Selbständigkeit unterrichtet, Inklusion gelebt und Zukunft ermöglicht. Im Interview mit Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Gifhorn, wird deutlich: Diese Schule im Herzen unserer Stadt verändert nicht nur Bildungsbiographien, sondern auch das Bild von Teilhabe in unserer Gesellschaft.

Ihnen wurde jetzt die staatliche Anerkennung der Förderschule „Schule der Zukunft“ verliehen, was bedeutet das für Sie und Gifhorn?

Ich bin überglücklich, dass wir jetzt mit unserer neuen Förderschule „Schule der Zukunft“ die Schullandschaft in Gifhorn inhaltlich und fachlich mitgestalten und bereichern können.

Dafür mussten Sie ein mehrjähriges Anerkennungsverfahren durchlaufen, was bedeutet dies?

Wir haben 2021 die Schule der Zukunft gegründet. Daraufhin mussten wir drei Jahre beweisen, dass wir Schülerinnen und Schüler mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“ nach den Vorgaben und Qualitätsansprüchen des Kultusministeriums beschulen können. Dies ist uns in hervorragender Weise gelungen.

Zudem mussten wir in diesen drei Jahren die Schule vollständig aus Eigenmitteln finanzieren. Wir wurden vom regionalen Landesamt für Schule und Bildung begleitet und überprüft, und nun haben wir eine staatlich anerkannte Förderschule mitten in Gifhorn, in der Wilhelmstraße.

Die inklusive Musikgruppe ist eine Kooperation mit der Kreismusikschule Gifhorn.

Foto: Privat

Sie haben unter dem Namen Schule der Zukunft zudem noch zwei Tagesbildungsstätten.

Genau. Seit 62 Jahren beschult die Lebenshilfe Gifhorn Kinder und Jugendliche in den Tagesbildungsstätten in Gifhorn und in Wittingen.

Die Tagesbildungsstätten haben immer die jungen Menschen aufgenommen, die nirgendwo anders beschult werden konnten. Unsere Schülerinnen und Schüler können nicht an einer Regelschule beschult werden und in der Regel auch nicht in regulären Förderschulen.

Warum ist das so?

Die Schülerinnen und Schüler in den Tagesbildungsstätten haben sehr schwere Beeinträchtigungen. Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler kann nicht sprechen. Viele Schülerinnen und Schüler haben neben der geistigen Beeinträchtigung eine schwere körperliche Beeinträchtigung, unter anderem benötigen diese Schülerinnen und Schüler eine Sondenernährung, leiden an Ohnmachtsanfällen oder brauchen Unterstützung im Bereich Inkontinenz. Sehr viele Schülerinnen und Schüler zeigen ein sehr herausforderndes Verhalten, unter anderem verletzen sie sich selbst oder andere.

Die inklusive Musikgruppe ist eine Kooperation mit der Kreismusikschule Gifhorn.

Foto: Privat

Was ist an den Tagesbildungsstätten anders?

Für diesen hohen und speziellen Unterstützungsbedarf haben wir in unseren Tagesbildungsstätten hoch qualifiziertes pädagogisches, medizinisches und therapeutisches Personal sowie eine über 60-jährige Erfahrung. Darüber hinaus haben wir die Schule so gestaltet, dass sie zu den Schülerinnen und Schülern und deren Hilfebedarf in idealer Weise passt. Wir haben unter anderem Pflege- und Therapieräume, Snoezelräume für die Entspannung, ein Therapiepferd und einen eigenen Fuhrpark für die Mobilität.

Aber die Tagesbildungsstätten sollen abgeschafft werden?

Das ist richtig. Das Land Niedersachsen hat entschieden, dass es ab dem 1. August 2027 keine Tagesbildungsstätten mehr geben wird. Die Finanzierung für die Tagesbildungsstätten in Niedersachsen wird eingestellt.

Und was passiert dann mit den Schülerinnen und Schülern?

Bis August 2027 werden alle Schülerinnen und Schüler der Tagesbildungsstätten nach und nach in die Förderschule der Lebenshilfe Gifhorn wechseln. Wir werden die Struktur und all das, was gut funktioniert, von den Tagesbildungsstätten mit in die Förderschule nehmen. Für die Schülerinnen und Schüler ändert sich dadurch nichts. Sie bleiben in ihren gewohnten Räumlichkeiten mit den Mitarbeitern, die sie kennen und schätzen, und sie werden gleicherweise betreut, begleitet und beschult wie bisher.

Lebenshilfe trifft Oberschule: Schülerinnen und Schüler von Förderschule und Regelschule kochen gemeinsam.

Foto: Michael Uhmeyer (Archiv)

Was ist denn dann der Unterschied Ihrer Tagesbildungsstätten und Ihrer Förderschule?

Es gibt nur zwei Unterschiede. In der Förderschule sind die Klassenleitungen studierte Lehrkräfte. In den Tagesbildungsstätten sind die meisten ausgebildete Heilerziehungspfleger, Erzieher oder anderes. Der zweite Unterschied ist die Finanzierung. Die Tagesbildungsstätten werden von der Eingliederungshilfe bezahlt. Die Förderschule erhält Finanzhilfe vom Land.

Reicht die Finanzhilfe aus, um die Kosten voll zu decken?

Leider nein. Die Finanzhilfe deckt maximal 80 Prozent der Personalkosten ab.

Und wer bezahlt den Rest?

Dieses Thema wird aktuell auf Landes- und Kommunalebene intensiv diskutiert. Die Frage lautet: Wenn das Land die Abschaffung der Tagesbildungsstätten entscheidet, wer ist dann verpflichtet zu zahlen – das Land, der Landkreis oder beide? Ich gehe davon aus, dass es dazu bald eine Entscheidung für alle Tagesbildungsstätten in Niedersachsen geben wird.

Was tun Sie in diesem Zusammenhang?

Ich bin mit dem Landtag Niedersachsen in intensiven Gesprächen, um am Beispiel der Lebenshilfe Gifhorn Lösungsmöglichkeiten zu finden. Die Lebenshilfe in Gifhorn hat sich als erstes Unternehmen in diesem Zusammenhang schon vor vier Jahren auf den Weg gemacht. Die anderen, mehr als 70 Tagesbildungsstätten in Niedersachsen machen sich jetzt auf den Weg. Auf jeden Fall muss es langfristig eine auskömmliche Finanzierung der neu gegründeten Förderschulen geben.

Zudem bin ich im engen Austausch mit der Politik und dem Landkreis in Gifhorn. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir zu einer langfristig guten Zukunft der „Schule der Zukunft“ kommen werden.

„BE FREE“ lautet das Motto der Schule der Zukunft.

Foto: Michael Uhmeyer

Warum heißt Ihre Schule eigentlich Schule der Zukunft?

Das erklärte Ziel der Lebenshilfe Gifhorn und damit auch für die Schule der Zukunft ist es, alles zu tun, damit unsere Schülerinnen und Schüler so schnell wie möglich die Lebenshilfe wieder verlassen können oder so wenig Hilfe wie möglich in Anspruch nehmen müssen. Das bedeutet, dass wir alles daran setzen, damit die Schülerinnen und Schüler ein selbständiges Leben nach der Schulzeit führen können. Die Schülerinnen und Schüler erlangen in der Schule der Zukunft Selbstbewusstsein und das Vertrauen auf die eigene Wirksamkeit. Sie erwerben Kompetenzen, die sie benötigen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Unser Wunsch ist es, dass unsere Schulabgänger nicht in einer Werkstatt der Lebenshilfe arbeiten werden, sondern auf dem ersten Arbeitsmarkt – und, dass sie nicht in Wohngemeinschaften der Lebenshilfe wohnen müssen, sondern in der eigenen Wohnung. Die Schule der Zukunft ermöglicht eine positive und glückliche Zukunft für unsere Schülerinnen und Schüler und eine echte Chance auf ein eigenständiges Leben nach der Schule.

Daher ist das Motto der Schule der Zukunft „BE FREE“.

Was heißt denn das ganz praktisch?

Unsere Schülerinnen und Schüler, die nicht sprechen können, lernen einen Sprachassistenten auf dem iPad zu bedienen oder Bildkarten zu verwenden. Im Ergebnis können unsere Schülerinnen und Schüler ohne Hilfe zum Beispiel einkaufen gehen und Freundschaften pflegen, weil sie ein Mittel für die Kommunikation gefunden haben. Andere Schülerinnen und Schüler lernen Fahrradfahren oder die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Damit können sie in jedem Lebensbereich autark mobil sein.

Die Stiftergemeinschaft der Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg hat digitale Tafeln gespendet. Dr. Tanja Heitling (2. von links) bedankt sich.

Foto: Privat

Und was tun Sie dafür?

Ein schönes Beispiel hierfür ist unsere Wohnschule. In den letzten drei Schuljahren üben die Schülerinnen und Schüler in einer angemieteten Wohnung, den Haushalt zu führen, mit Geld umzugehen und Probleme des Alltags zu lösen. Gleichzeitig absolvieren diese Schülerinnen und Schüler Praktika auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das Ergebnis gibt uns Recht. Ein Großteil der Schulabgänger wird nicht in einer Werkstatt der Lebenshilfe arbeiten und auch nicht bei uns wohnen müssen. Wirklich schön ist, dass die jüngsten zwei Abschlussklassen ihre Abschlussfahrten mit Hilfe von Spenden auf der Aida gemacht haben – was für eine Freude.

Zudem ist unsere Schule inklusiv ausgerichtet. Unterrichtseinheiten und Arbeitsgemeinschaften werden gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern aus Regelschulen gestaltet. Zum Beispiel fahren sechs Schülerinnen und Schüler unserer Förderschule einmal in der Woche in die Oberschule Papenteich in Groß Schwülper und kochen dort gemeinsam mit sechs Schülerinnen und Schülers ohne Beeinträchtigung. Weitere inklusive Einheiten sind Musik mit der Kreismusikschule Gifhorn, Sport und Kunst.

Die Schule der Zukunft setzt auf Unterrichtsmethoden, die ideal auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler abgestimmt sind. In unseren Klassen sind sieben Schülerinnen und Schüler maximal und jede Schülerin und jeder Schüler hat ganz unterschiedliche Präferenzen. So sind wir vollständig digital ausgestattet mit digitalen Tafeln, iPads und mehr. Gleichzeitig legen wir großen Wert auf das Lernen in der Natur und außerhalb des Schulgebäudes. Beispielsweise haben wir eine Bio-Gärtnerei für die Schülerinnen und Schüler geschaffen. Dort pflanzen, pflegen und ernten unsere Schülerinnen und Schüler Obst und Gemüse. Und später werden die Lebensmittel gemeinsam zubereitet und genüsslich gegessen.

Und wie geht es jetzt weiter?

Ich wünsche mir, dass alle Schulen im Landkreis Gifhorn enger zusammenrücken und wir uns gegenseitig intensiv unterstützen und es uns gemeinsam gelingt, einfacher und schneller als bisher Übergänge von einer Schulform in eine andere Schulform zu realisieren.

Zudem möchte ich den inklusiven Anteil der Schule der Zukunft maximieren. Gut gestaltete inklusive Erlebnisse sind ein Schlüssel für ein starkes Selbstbewusstsein, dass unsere Schülerinnen und Schüler unbedingt benötigen, um in dieser Welt ein Leben zu führen, das ihren eigenen Namen trägt.

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