Glauben & Zweifeln

Imagine – Tränen der Flucht: KURT-Kolumnist Martin Wrasmann denkt über Leiden und Hoffnung nach

Martin Wrasmann Veröffentlicht am 23.03.2022
Imagine – Tränen der Flucht: KURT-Kolumnist Martin Wrasmann denkt über Leiden und Hoffnung nach

Die Marburger Universitätskirche zeigt die Ausstellung „Imagine – 80.000.000 Tränen für die Menschen auf der Flucht“ des Schweizer Künstlerduos „huber.huber“.

Foto: Institut für Kirchenbau und moderne Kunst Marburg

Der Krieg in der Ukraine macht fast alle von uns sprach- und fassungslos. Für unmöglich Gehaltenes wird knallharte Realität. Beklemmung und Ohnmacht ziehen ein, wo vorher Kraft und Elan herrschten. Ausweglosigkeit durchzieht Debatten und Gefühle. Wie kann ein Strohhalm aussehen, an dem ich mich festhalten kann? Mich durchzieht ein Wirrwarr von Gedanken, die sich manchmal nur schwer ordnen lassen. An einem Teil dieses ganzen Durcheinanders möchte ich Sie und Euch heute teilhaben lassen.

Wir sind damals in den 60er und 70er Jahren mit Friedensliedern aufgewachsen. Es waren Lieder des Widerstands („Ich hasse den Krieg, weil er den Mördern gehört“), Lieder der Hoffnung („Freunde, dass der Mandelzweig…“), Lieder mit Zukunftskraft („Imagine“).

Welche Lieder können wir in diesen Tagen noch anstimmen, können wir überhaupt noch singen? Der Gifhorner Musiker Volker Schlag hat sein Lied „Pepperland“ neu geschrieben und damit auf den brutalen Krieg in der Ukraine reagiert: „Du willst vor der Lüge fliehen, sie haben Dich und mich betrogen, keine Achtung vor dem Leben, keinen Mut und keine Vergebung. Und die Hoffnung ist Dein Freund, und Du doch nun vom Frieden träumst, Vergebung stirbt zuletzt, wenn Du Dich in Bewegung setzt.“

Wir können vielleicht nicht singen, weil uns gerade nur Trauer, Wut und Mitleid über die Lippen kommen. Wir können aber auf Lieder, auf Gedichte, auf Gebete hören, weil sie uns in Bewegung setzen, uns antreiben und Mut geben.

Christinnen und Christen aller Konfessionen haben spontan zu ökumenischen Friedensgebeten aufgerufen. Das war fast wie ein Reflex. Wir haben eine bedrohliche und nicht einschätzbare Ausnahmesituation und deshalb gehen wir zum Gebet in die Kirche. Der Pfarrer Thomas Hoffmann fragt sich deshalb: „Bringt das etwas? Diese Frage stellt sich mir unwillkürlich. Verändert das etwas?“

Viele Menschen antworten darauf: Nein. Andere sagen: Ja, der Mauerfall wurde durch viele Gebete begleitet. Sie haben mitgeholfen, das Aussichtslose möglich zu machen. Gebete haben keine automatischen, berechenbaren Folgen. Es gibt keine Gebetsmechanik. Nach einem Gebet setzt sich kein weltliches oder himmlisches Räderwerk in Gang.

Gebete sind ganz sicher Ausdruck von Empathie und Solidarität. Sie drücken aus, dass wir mit den Menschen in der Ukraine mitfühlen, ihnen nahe sind, sie einen Platz in unserem Herzen haben. „Betet für uns“, sagen sie uns ganz ausdrücklich. Es hilft ihnen, es verbindet uns mit ihnen. Ihr Glaube und unser Glaube an den einen Gott aller Menschen ist wie eine Brücke von uns hinein in das Leid der bedrohten Ukrainerinnen und Ukrainer. Gott ist dabei kein strahlender Friedensheld, sondern ein mitfühlender, mitleidender, solidarischer Gott, der auf der Seite der Geschlagenen steht.
Gebete helfen uns. Sie kleiden in Worte, was in uns brodelt, nach einem Ausdruck ringt. Sie schütten in der aktuellen Weltlage die Seele aus und schmeißen Gott alles vor die Füße: den Ärger, die Wut, die Unfähigkeit, die Ohnmacht, die Angst. Albert Schweitzer hat diese Gedankengänge in wunderbare Worte gefasst: „Gebete ändern die Welt nicht. Aber Gebete ändern die Menschen. Und die Menschen ändern die Welt.“

Am 30. Januar hat das Schweizer Künstlerduo „huber.huber“ die Ausstellung „Imagine – 80.000.000 Tränen für die Menschen auf der Flucht“ im Rahmen eines Gottesdienstes in der Marburger Universitätskirche eröffnet. Die Zahlen des internationalen Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind alarmierend: Aktuell sind mehr als 80 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Und die Zahlen steigen kontinuierlich weiter an. Das Duo will darauf aufmerksam machen. Es schafft einen subtilen Zugang zu dem herausfordernden Thema, indem es an unsere Empathiefähigkeit appelliert. Würde man nur eine Träne für jeden Menschen auf der Flucht weinen, so wären das unvorstellbare 120.000 Liter, sagen die Künstler.

Für die Installation verteilt das Künstlerduo in der Universitätskirche unzählige, offene Gefäße voller Tränen. Die Gefäße stehen überall, einzeln oder dicht als kleine Stillleben arrangiert und erinnern an die Menschen auf der Flucht. Zudem ist das Kreuz, das zentrale Symbol des Christentums, mit einem weißen Banner mit der Aufschrift „Imagine“ verhüllt. Stell Dir vor, so viele Menschen. Imagine.

„Stell Dir“ oder „stellt Euch vor“, fordert uns das Banner auf, das bis auf die Schrift rein weiß ist und im Altarraum zu schweben scheint. Wie eine weiße Leinwand oder ein noch unbeschriebenes Blatt lädt es zur Imagination ein: einerseits dazu, sich das riesige Ausmaß des Leids, das mit Flucht verbunden ist, präsent zu machen. Andererseits aber auch, Visionen zu entwickeln. Vielleicht von einer anderen Welt, wie sie sich John Lennon und Yoko Ono im Song „Imagine“ erhofften: „Imagine all the people living life in peace.“ Denn wenn genügend Menschen sich etwas erträumen, können Visionen Realität werden. „You may say I‘m a dreamer, but I‘m not the only one. I hope someday you‘ll join us and the world will live as one.“

Und wir müssen uns klar machen, dass in diesen Tagen Millionen von Tränen dazu kommen. Von Kindern, Frauen und Männern. Tränen, die nicht mehr getrocknet werden können. Die bald vielleicht auch nicht mal mehr geweint werden können. Tränen sind das Grundwasser der Seele und der seelische Grundwasserspiegel scheint zu versiegen. Die Tränen der Flucht sind Ermahnung für uns, nicht erst jetzt und nicht nur für die Menschen in der Ukraine Solidarität zu zeigen. Die Würde des Menschen ist unteilbar und das fürchterliche Leid durch Flucht und Vertreibung ist kein europäisches Problem, sondern eine permanente Herausforderung für uns alle. Auch am Mittelmeer gibt es europäische Grenzen, die durchlässiger werden müssen. Angesichts der Aufnahme und Aufnahmebereitschaft für Menschen aus der Ukraine muss der Begriff „Abschiebung“ in Verbindung mit Geflüchteten ganz neu überdacht werden. Es darf erst gar nicht dazu kommen, dass Tränen aus Angst vor Tod, Leid und Vertreibung fließen müssen. Stellt Euch vor. Imagine.

Sie mögen jetzt fragen: Woher kommt denn noch Hoffnung? Ich halte mich an Theodor W. Adorno, der fragte: Kann man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben? Und seine Antwort war: Ja, weil auch in Auschwitz Gedichte geschrieben wurden. Anders gefragt:

Können wir angesichts des Leidens in der Ukraine und vielen anderen Teilen der Welt noch beten, dichten oder singen? Ja, weil wir damit in Verbindung stehen mit all den vielen Leidenden und zum Ausdruck bringen: Ihr seid uns nicht egal. Stell Dir vor. Imagine.

Martin Wrasmann, katholischer Theologe aus Gifhorn, schreibt die monatliche KURT-Kolumne „Glauben & Zweifeln“. Beipflichtungen wie auch Widerworte sind stets willkommen. Leserbriefe gerne an redaktion@kurt-gifhorn.de.


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