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Die Gifhornerin Sophie ist magersüchtig – Mit der RTL 2-Reportage „Die Gruppe – Schrei nach Leben“ macht sie auf ihre Krankheit aufmerksam

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 25.07.2020
Die Gifhornerin Sophie ist magersüchtig – Mit der RTL 2-Reportage „Die Gruppe – Schrei nach Leben“ macht sie auf ihre Krankheit aufmerksam

Sophie ist 24 Jahre alt und seit neun Jahren magersüchtig. Mit ihrem Mitwirken in der RTL 2-Reportage „Die Gruppe – Schrei nach Leben“ versucht die Gifhornerin auch, für die Krankheit eine größere Öffentlichkeit zu schaffen.

Foto: Çağla Canıdar

„Ich habe das Gefühl, mich in einem Wartezimmer zu befinden – zwischen Leben und Tod.“ Es sind Sätze wie dieser, die Sophie in der RTL 2-Reportage „Die Gruppe – Schrei nach Leben“ sagt. Der Satz wirkt nach, wird länger. Wenn man die Serie in der Mediathek schaut, spult man noch mal zurück und drückt wieder auf Play. „Ich habe das Gefühl, dass ich nicht lebe, sondern nur existiere, und dass es ein Kampf ist, überhaupt ins Leben zurückzukommen“, fährt die Gifhornerin fort. Sophie ist magersüchtig. Schon seit neun Jahren. Sie ist 24 Jahre alt – und kurz bevor sie sich dazu entschieden hatte, bei der Serie mitzuwirken, war sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt so alt werden würde. Wir haben uns mit Sophie zum Foto-Shooting in Gifhorns Innenstadt und zum Interview verabredet, um mit ihr über die Reportage, ihre Krankheit und ihre Hoffnungen zu sprechen.

Die Geschichte geht Ende des Jahres 2018 los, als die Gifhornerin tief in ihre Depression stürzte. Sie fühlte sich antriebslos, und an lauschige Gespräche mit ihren Freunden war nicht zu denken. „Da ging‘s mir richtig schlecht“, sagt sie heute. „Ich habe nach einem Strohhalm gesucht. Ich habe in der Zeit nur versucht, am Leben zu bleiben.“ Da stieß sie auf die Ausschreibung für die zweite Staffel von „Die Gruppe“. Ein Jahr zuvor hatte sie die ersten sechs Folgen interessiert verfolgt. Ist das vielleicht der Strohhalm? „Ohne Hintergedanke habe ich ihnen meine Story geschickt“, erinnert sich Sophie, die so denn lange mit der Chefredakteurin telefonierte und kurze Videos aufnehmen sollte, da ein Teil des Formats ein Videotagebuch ist, das alle Teilnehmer zu Hause führen sollen. „Ich kann mich selber super schwer angucken, aber es war einfacher für mich, in die Kamera zu reden als mit jemand anderem“, so die Gifhornerin ehrlich.

„Die Gruppe“ ging Anfang Juli in die zweite Staffel, wieder betreut die Trauma- und Verhaltenstherapeutin Diana Kerzbeck sechs junge Erwachsene, die süchtig sind und/oder unter Angststörungen leiden. Im Stuhlkreis erzählt jeder seine Geschichte. Der Raum ist hell gehalten und lichtdurchflutet. Wenn jemand das Wort ergreift, zieht sich aber ein dunkler Sound von Wand zu Wand, die Stimmen sind gebrochen, flüsternd, leise, unsicher. Da ist zum Beispiel Franzi, sie kämpft mit Agoraphobie (Platzangst) und traut sich deswegen nicht mehr, das Haus zu verlassen. Panikattacken sind die Folge. Da ist Jürgen*, der nicht aufhören kann, seinen Körper stahlhart zu trainieren – der Adonis-Komplex. Während er im Fitness-Studio tagtäglich bis zu sechs Stunden pumpt, vernachlässigt er die Beziehung zu seiner Familie.

Die Gruppe – Schrei nach Leben.

Foto: RTL 2/Story House Productions

Und dann ist da eben auch Sophie, die Gifhornerin, die nicht essen kann, weil sie panische Angst davor hat, zu dick zu sein. „Wenn ich auf die Waage steige und ich sehe eine Zahl, die viel zu gering ist“, sagt sie an einer Stelle, „dann bringt mir das rationale Wissen nichts. Denn wenn ich mich im Spiegel sehe, denke ich, dass das zu viel ist – viel zu viel.“

Sophie bekam nach der Bewerbung zügig den Platz in der Serie – und ein spezielles Kapitel begann. Doppelt musste sie für die Dreharbeiten nach Berlin fahren. Aufregend seien diese Wochenenden gewesen: „Wir mussten in die Maske und wurden mit dem Ton verkabelt.“ Hat man auch nicht jeden Tag. Im Stuhlkreis durfte sie sich als Dritte vorstellen. Es sei nicht schlimm gewesen, den anderen zuzuhören. Erst als sie selbst an der Reihe war, bollerte das Herz. Abends blieb etwas Zeit für Unternehmungen, doch die Sitzungen waren auch anstrengend und kräfteraubend. Da wollte die Gifhornerin dann lieber allein sein und blieb bei sich. Unter der Woche ging es zurück in den Alltag. Der besteht bei Sophie aus Arztterminen, Therapien und Betreuungen. Denn nachdem sie aufgrund ihrer Krankheiten die Ausbildung zur Sozialassistentin abbrechen musste, ist sie erwerbsunfähig.

Schon in der Kindheit machte sie körperliche und psychische Gewalterfahrungen. Über Jahre. Daraus resultierte eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die die Depression auslöste und schlussendlich die Essstörungen mit sich brachte. Einmal musste Sophie auch bei den Dreharbeiten fehlen, weil sie in der Klinik weilte. Sie wog zu wenig. In einem der Videotagebücher steigt die 1,75 Meter große Sophie auf die Waage, sie zeigt: 48,7 Kilogramm.

In der neuen Staffel von „Die Gruppe – Schrei nach Leben“ berichtet Sophie (Mitte) von ihrer Magersucht und ihrer Depression. Die Episoden sind nach wie vor unter www.tvnow.de kostenfrei zu sehen.

Foto: Foto: RTL 2/Story House Productions

Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung leiden von 1000 betrachteten Personen etwa 30 bis 50 an Essstörungen. Etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland im Alter von 11 bis 17 Jahren zeigt Symptome von Essstörungen. „Viele haben bereits eine Körperschemastörung, sehen ihren Körper also verzerrt oder nehmen sich im Spiegel dicker wahr als sie wirklich sind“, erklärt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Beate Herpertz-Dahlmann in einem „Zeit“-Interview. Und die Zahlen steigen. Einerseits liege das daran, dass Ärztinnen und Ärzte zum Beispiel die Anorexie eher diagnostizieren würden als noch vor 10 oder 15 Jahren – die Krankheit ist keine unbekannte mehr. Andererseits stünden Kinder viel früher unter einem Leistungsdruck als die Generationen zuvor. Ziele, Karrieren, Lebensentwürfe – das kann schon mal Angst machen. Und dann ist da natürlich noch das ungesunde Schönheitsideal, vor allem für Mädchen und Frauen, was zwar häufig angeklagt, aber nie verurteilt wird.

Schon früh manifestiert sich damit eine wahnhafte Orientierung am Körper, besteht ein Dauervergleich mit dem Gegenüber. Nehmen die Erkrankten Essen zu sich, plagen sie Schuldgefühle. Und es sind vor allem Mädchen und junge Frauen, die betroffen sind. So wie Sophie. Im Laufe der TV-Sitzung sagt sie, dass bei ihr das Gefühl bestehe, nicht genug Platz zu haben oder überhaupt einen Platz zu haben. In der Welt. Daher rührt das Hungern, das Weghungern, das Aus-der-Welt-Hungern. Die Auflösung im Nichts.

Teilweise isst die Gifhornerin nur 500 Kalorien pro Tag, an manchen Tagen sind es Null. Vor lauter Hunger kann sie dann nicht schlafen und wühlt sich im Bett, ehe sie sich doch dazu durchringt, etwas zu essen. Denn gleichzeitig gibt es da diesen tiefen Wunsch, etwas essen zu wollen. Teilweise schaut sie sich stundenlang Instagram-Videos von schmackhaften Schoko-Muffins mit Nougatkern an – in dem Wissen, dass sie es aktuell einfach nicht schafft, dort hineinzubeißen. Vor der Kamera für ihr Videotagebuch zu essen, falle ihr schwer, denn das seien private Momente.

Für die RTL 2-Reportage „Die Gruppe – Schrei nach Leben“ sollte die junge Gifhornerin Sophie ein Videotagebuch führen.

Foto: RTL 2/Story House Productions (Screenshot)

Sophies Hauptgrund, in der Reportage mitzuwirken, „war die Hoffnung, dass es mir hilft. Und ich hatte die Hoffnung, dass es auch anderen hilft, die an Magersucht leiden.“ Sie verschafft damit der Magersucht, allen Essstörungen, der Depression und der PTBS zu Aufmerksamkeit. Denn viele der Essgestörten sind zwar fixiert auf den Körper und machen ständig sogenannte Body-Checks. Doch mit Klamotten könne man viel verstecken, meint Sophie. Die Schwere der Krankheit hat auch sie bis zu der Reportage gut überdecken können, vor allem auch vor ihren Freundinnen und Freunden. Nun haben aber auch sie Sophie in der verletzlichen Pose vor dem Spiegel gesehen, der Oberkörper ist ganz nackt, die Brüste nur bedeckt durch den davorgehaltenen Arm. Jede einzelne Rippe ist zu erkennen. „Jetzt konnten sie mich besser verstehen, auch wenn das, was man in der Doku sieht, nur ein kleiner Bruchteil ist. Es wird ja fast nur die Essstörung thematisiert“, meint die Gifhornerin – und freut sich über mutmachende Worte: „Meine Freunde finden es richtig stark, dass ich da mitgemacht habe. Sie haben gesagt, dass sie sich das nicht getraut hätten.“

Und schlussendlich ist es auch das, was Sophie aus dieser Zeit mitnimmt. „Dass ich auf mich hören muss und mich fragen muss: Was will ich überhaupt wirklich?“ Dann überlegt sie kurz. „Vielleicht bin ich mutiger geworden“, sagt sie, ist dabei fast still. Ob es ihr nun besser geht als damals, Ende 2018? „Was die Depression angeht, auf jeden Fall. Körperlich nicht unbedingt. Aber ich habe eine persönliche Reifung und einen inneren Prozess durchgemacht.“ Der würde auch fortgesetzt. „Ich hoffe, dass ich den Rest auch in den Griff kriege. Ich bin auf meinem Weg“, erklärt Sophie. „Und ich würde allen raten, nicht zu lange zu warten, um zum Arzt zu gehen oder zu einem Therapeuten oder Psychiater oder einer Beratungsstelle. Man wartet meistens zu lange, und dann ist es zu spät. Man muss über seine Probleme reden, bevor es zu spät ist. Denn wirklich jeder hat Hilfe verdient.“

*Name geändert.

„Die Gruppe – Schrei nach Leben“:
Die erste Folge mit Sophie ist noch bis 31. Juli kostenfrei in der Mediathek unter www.tvnow.de zu sehen. Dort sind auch alle weiteren Folgen abrufbar.

Hier gibt‘s Hilfe bei Essstörungen und mehr

Magersucht, Bulimie, Binge Eating Disorder, Adipositas, Orthorexie – Selbsthilfegruppe für Mädchen und Frauen ab 18 Jahren
Jeden 1. Mittwoch im Monat, 18.30 Uhr
Dannenbütteler Weg 1 (Seiteneingang), Gifhorn
(im August ist Sommerpause)

Selbsthilfekontaktstelle beim Awo-Kreisverband Gifhorn
Bergstraße 35, Gifhorn
Tel. 05371-5947825
selbsthilfekontaktstelle@awo-gf.de

Stellwerk e.V. Verein zur Förderung seelischer Gesundheit
Fallerslebener Straße 11, Gifhorn
Tel. 05371-14332
info@stellwerk-ev.de

Psychiatrische Tagesstätte
Celler Straße 44 und Steinweg 90, Gifhorn
Tel. 05371-589883 und 05371-6875521
info@gifhorner-tagesstaette.de

Krisendienst Gifhorn (Soforthilfe und Kriseninterventionsgespräche an Wochenenden und Feiertagen)
Campus 7, Gifhorn
Tel. 0800-8282333
Fr. und Sa. 13 bis 19 Uhr
So. und Feiertag 11 bis 19 Uhr


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