Stolpersteine

Bis zum Eingriff verfolgt von den NS-Behörden - Erich Lange, der als Wanderarbeiter in Kästorf weilte, wurde 1941 in Sachsen zwangssterilisiert

Felix Kleefeldt Veröffentlicht am 04.11.2023
Bis zum Eingriff verfolgt von den NS-Behörden - Erich Lange, der als Wanderarbeiter in Kästorf weilte, wurde 1941 in Sachsen zwangssterilisiert

Dieser Stolperstein auf dem Gelände der Kästorfer Diakonie erinnert an den Wanderarbeiter Erich Lange.

Foto: Mel Rangel

Der bürokratische Terrorstaat verfolgte und tötete Millionen von Menschen. Allein in unserem Gifhorn ist die Zahl der Opfer des NS-Regimes mindestens dreistellig. Stolpersteine erinnern an ihre Schicksale. Ihre Biographien stellt KURT in einer Serie vor. Diesmal erzählt Felix Kleefeldt, ehemaliger Mitarbeiter im Archiv der Dachstiftung Diakonie, in einem Gastbeitrag die Geschichte von Erich Lange, der vor seiner Unfruchtbarmachung als Wanderarbeiter in der Kästorfer Arbeiterkolonie lebte.

Erich Lange wurde am 13. Juni 1905 in Chemnitz als Sohn des Arbeiters Otto Paul Lange und dessen Ehefrau Emilie Helene geboren. Er konnte mit zwei Jahren laufen und sprechen, blieb aber später bedingt durch eine Hauterkrankung früh der Schule fern. Wahrscheinlich verließ er eine Chemnitzer Hilfsschule bereits nach der zweiten Klasse. 1918 wurde Erich Lange auf behördliche Anordnung im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf, anschließend im Erziehungsheim des Fürsorgezweckverbandes in Mittweida untergebracht. Auch ein Aufenthalt in der Kinderbewahranstalt Technitz ist überliefert. Die Mutter starb früh an Wassersucht, zwei Geschwister lebten ebenfalls in Erziehungseinrichtungen.

Nach seinen Anstaltsaufenthalten arbeitete Erich Lange als ungelernter und wandernder Arbeiter in verschiedenen Betrieben. So kam er auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft am 24. Oktober 1935 in Kästorf an, wo er einen Platz in der Arbeiterkolonie Kästorf bekam.

Dort fanden am 5. Dezember psychiatrische Untersuchungen der Bewohner statt. Bei Erich Lange wurde eine Untersuchung mit anschließendem Intelligenztest durchgeführt.

Obwohl er als aufmerksam und zugänglich galt und prompte Antworten gab, fiel die Diagnose von Dr. Walter Gerson eindeutig aus: „Es handelt sich bei Erich Lange um einen erheblichen Schwachsinn, bei dem mit großer Wahrscheinlichkeit erbkranke Nachkommen zu erwarten sind.“ Zusätzlich hielt Gerson fest, dass eine Verständigung mit Lange nicht möglich und er damit nicht geschäfts- beziehungsweise zurechnungsfähig sei.

Landwirtschaftliche Arbeiter auf dem damaligen Gelände der Arbeiterkolonie Kästorf um 1960. Erich Lange arbeitete hier rund ein halbes Jahr.

Foto: Foto: Sammlung Archiv der Dachstiftung Diakonie

Wenige Tage später reichte Anstaltsvorsteher Martin Müller eine Anzeige beim Gifhorner Gesundheitsamt ein und bat Amtsarzt Dr. Bernhard Franke darum, einen Antrag auf Unfruchtbarmachung zu stellen. Franke kam der Bitte am 24. Januar 1936 nach.

Am 27. Januar 1936 setzte das Erbgesundheitsgericht Hildesheim ein Schreiben an Lange auf, um ihn über die beantragte Unfruchtbarmachung aufzuklären. Das Schreiben traf laut Poststempel am 3. Februar in Kästorf ein, erreichte Erich Lange aber nicht mehr. Am 30. Januar hatte er die Arbeiterkolonie verlassen, um sich wieder auf Wanderschaft zu begeben.

Anschließend folgte ein reger Schriftwechsel zwischen verschiedenen Behörden und Anstaltsvorsteher Martin Müller. Obwohl es keine Gesetzesgrundlage dafür gab, den Wanderarbeiter Erich Lange gegen seinen Willen festzuhalten, musste Müller sich für dessen Weggang rechtfertigen. Am 14. Februar 1936 wurde Erich Lange zur Fahndung ausgeschrieben.

Damit lief der Verwaltungsapparat im Überwachungsstaat an. Verschiedene Einrichtungen und Behörden wurden nach dem Aufenthaltsort von Erich Lange befragt, allerdings erfolglos. Dazu führten auch Ermittlungsfehler, was Schriftstücke aus dem Jahr 1937 belegen. So wurden namensgleiche Ortschaften verwechselt und irrtümlich die falschen Behörden angeschrieben. Da vergleichbare Fehler die Ermittlungen begleiteten, zog die Fahndung nach Erich Lange einen großen Verwaltungsaufwand nach sich.

Im September 1937 fand die Kriminalpolizei ihn schließlich. Erich Lange übernachtete einmal in der Herberge zur Heimat in Leipzig, eine weitere Nacht verbrachte er in der Städtischen Arbeitsanstalt. Am selben Tag leitete die Kriminalpolizei Leipzig diese Information an das Amtsgericht Hildesheim weiter. Das Erbgesundheitsgericht in Hildesheim fasste daraufhin umgehend den Beschluss, Lange in eine Heil- und Pflegeanstalt einzuweisen, „weil er sich der Durchführung des Verfahrens auf Unfruchtbarmachung entzieht“. Bevor aber die Polizei zugreifen konnte, war Lange verschwunden.

Im Januar 1938 gab dann die Staatliche Kriminalpolizei Dresden den vermeintlichen Aufenthaltsort von Erich Lange bekannt. Er befinde sich wegen Urkundenfälschung in einer Haftanstalt und werde umgehend vorgeladen, so die Polizeidienststelle. Während der Vernehmung traten aber Ungereimtheiten auf. Bald wurde klar, dass der ebenfalls am 13. Juni 1905 geborene Häftling gleichen Namens nicht der gesuchte Erich Lange war. Körperbau, eine fehlende Operationsnarbe und eine Tätowierung belegten die Verwechslung, die einen regen Schriftwechsel zwischen verschiedenen Ämtern und Behörden nach sich zog.

Im Juni 1938 tat sich eine Spur auf, die tatsächlich zu Erich Lange führte. Er hatte im Städtischen Männerobdachheim in Dresden übernachtet und wurde angewiesen, sich mit der zuständigen Behörde in Verbindung zu setzen. Lange reagierte mit einem Schreiben und gab seine Anschrift bekannt, was zu einem Wechsel der Zuständigkeiten führte. Nun sollte die Kriminalpolizei Dresden seiner habhaft werden. Aber auch sie kam zu spät.

Bevor die Identitätsprüfung abgeschlossen war, zog Erich Lange weiter. Ende 1938 unterlief den Behörden erneut ein grober Fehler. Ein neuer Fahndungsaufruf wurde im Sächsischen Fahndungsblatt veröffentlicht, allerdings wurden die Personalien vom inhaftierten Erich Lange angegeben. Entsprechend betrafen zunächst alle Meldungen, die aufgrund des schlampigen Fahndungsaufrufes eingingen, den „falschen“ Erich Lange.

Im November 1939 führte der Fahndungsaufruf dann zum Erfolg. Erich Lange, der in Seifersdorf gemeldet war und bei einem Bauern arbeitete, wurde gefunden. Allerdings sorgte der Kriegsausbruch mittlerweile für eine neue Situation. Durch den Überfall auf Polen am 1. September verschoben sich für die Nationalsozialisten die Prioritäten. 1939 gaben die Reichsminister des Innern und der Justiz vor, dass Sterilisationsanträge nur noch bei „besonders großer Fortpflanzungsgefahr“ zu stellen waren. Alle noch nicht abgeschlossenen Verfahren waren zudem einzustellen.

Der Bürgermeister aus Jahnsdorf erachtet die Krankenhauseinweisung Erich Langes als dringlich.

Foto: Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, 30087 Gesundheitsamt Stollberg, Nr. 380

Am 25. November 1939 stellte der Vorsitzende des zuständigen Erbgesundheitsgerichts Chemnitz, Amtsgerichtsrat Dr. Meusel, das Sterilisationsverfahren gegen Erich Lange ein. Für April 1940 erhielt Erich Lange dann einen Musterungsbescheid. Drei Tage vor dem Termin stellte allerdings der Amtsarzt des Ortes Stollberg einen Dringlichkeitsantrag in der Erbgesundheitssache Erich Lange. Am 22. April wurde der Beschluss gefasst, das Verfahren wieder aufzunehmen, da Lange schwachsinnig, fortpflanzungsfähig und „die Gefahr der Fortpflanzung bei ihm besonders gross“ sei. Es kam daraufhin zu einem Schriftwechsel zwischen dem Amtsarzt, Erich Lange und dem Erbgesundheitsgericht Chemnitz.

Kurze Zeit später wurden die Eltern von Erich Lange vernommen. „Mein Sohn Emil [Anmerkung: Emil im Original] ist von Geburt an schwachsinnig. Diese Belastung ist erblich. Auch ich leide an Schwachsinn. Dieser hat sich nach einer schweren Typhuserkrankung im schulpflichtigen Alter, wo ich über ein Jahr fest darniedergelegen habe, eingestellt“, gab Otto Lange pflichtbewusst zu Protokoll. Das Ehepaar war mit der Unfruchtbarmachung ihres Sohnes einverstanden, konnte aber keine Angaben über seinen Aufenthaltsort machen. Während das Erbgesundheitsgericht Chemnitz am 17. Juli 1940 die Unfruchtbarmachung von Erich Lange beschloss, hatte dieser zwischenzeitlich schon wieder seinen Wohn- und Arbeitsort geändert.

Gefunden wurde er im Jahr 1941. Lange arbeitete seit Oktober 1940 bei einem Bauern in Seifersdorf, wo er auch gemeldet war. Ein Schreiben des Amtsarztes forderte ihn auf, den Eingriff binnen zwei Wochen im Kreiskrankenhaus Stollberg vornehmen zu lassen. Während Lange die Frist verstreichen ließ, bat sein Arbeitsgeber die Behörden darum, auf den Eingriff zu verzichten. Er könne auf Langes Arbeitskraft nicht verzichten, so der Landwirt, außerdem kämen bei ihm „Weiber […] nicht im geringsten zu tragen“. Aber die Einlassungen waren vergebens. Nach über fünfjähriger Verfolgung wurde Erich Lange am 13. März 1941 im Kreiskrankenhaus Stollberg unfruchtbar gemacht.

Der letzte in der Akte überlieferte Schriftwechsel ist datiert auf April 1944. Einem Behördenschreiben ist zu entnehmen, dass Erich Lange heiraten wollte.

Die Suche nach Erich Lange ist ein Beispiel dafür, wie ein als schwachsinnig geltender Arbeiter jahrelang und vermeintlich ohne großen persönlichen Aufwand dem Fahndungsnetz des NS-Überwachungsstaates entkommen konnte. Darüber, ob Erich Lange sich aktiv auf der Flucht befand oder Zufälle und schlechte Ermittlungsarbeit zu der verzögerten Zwangssterilisation führten, lässt sich nur mutmaßen. Verstorben ist Erich Lange am 11. Juli 1970 in Augustusburg, Sachsen. Die Suche nach Angehörigen blieb erfolgslos.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf. Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


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