Kriminalität

30 Leute gehen mit Knüppeln aufeinander los, dazwischen zwei Gifhorner Beamte - Wie reagiert man als Polizist: Rückzug oder Warnschuss?

Bastian Till Nowak Veröffentlicht am 21.08.2021
30 Leute gehen mit Knüppeln aufeinander los, dazwischen zwei Gifhorner Beamte - Wie reagiert man als Polizist: Rückzug oder Warnschuss?

Erst war‘s nur ein Streit in einem Imbiss an der Braunschweiger Straße in Gifhorn – dann standen sich zwei Parteien mit jeweils rund 15 Personen und Schlagstöcken gegenüber. Zwei Polizisten vor Ort riefen Verstärkung.

Foto: Privat

Extrem heiß war es schon den gesamten Tag über an diesem einen Sonnabend Ende Juni in Gifhorn – und extrem heiß her ging es dann ganz plötzlich gegen 16 Uhr auch auf der Braunschweiger Straße: Eine Streifenwagenbesatzung rückt an, um einen zunächst harmlos scheinenden Streit zu schlichten. Ein Mann beleidigte eine Frau in einem Imbiss, „daraufhin stellte ein Familienmitglied den Täter zur Rede“, wie es im offiziellen Polizeibericht heißt. Noch während zwei Beamte das Geschehene zu Protokoll nehmen, kommen immer mehr Personen hinzu – und dann eskaliert die Lage: Zwei Gruppen, insgesamt etwa 30 Personen, gehen aufeinander los mit Schlagstöcken aus Holz. Eine brenzlige Situation – doch für die gut ausgebildeten Beamten der Polizeiinspektion Gifhorn keineswegs unbeherrschbar. Dennoch die eine Frage: Wie reagiert man richtig als Polizistin oder Polizist in einem solchen Moment?

Erst mal Rückzug in den Streifenwagen und auf Verstärkung warten, bevor man sich noch selbst in Gefahr begibt? Oder doch lieber einen einschüchternden Warnschuss in die Luft abfeuern, der die Streithähne hoffentlich zur Besinnung bringt? „Weder das eine noch das andere“, klären Uwe Jürges und Christian Engel im KURT-Interview auf.

Uwe Jürges ist Leiter des Einsatz- und Streifendienstes der Polizeiinspektion Gifhorn. Christian Engel ist Leiter Einsatz und damit Jürges‘ direkter Vorgesetzter.

„Was kritische Einsatzlagen angeht, sind unsere Beamtinnen und Beamten sehr gut ausgebildet“, sagt Christian Engel. „Das gilt auch für lebensbedrohliche Situationen – und damit meine ich jetzt nicht den Vorfall auf der Braunschweiger Straße, sondern denke an den Berliner Breitscheidplatz oder das Bataclan in Paris.“

Bei dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche im Dezember 2016 steuerte ein Terrorist einen Sattelzug in die Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz. Zwölf Menschen starben, 67 wurden teils schwer verletzt.

Ein Jahr zuvor, im November 2015, gab es in Paris eine ganze Serie von Anschlägen: Im beliebten Bataclan-Theater fand gerade ein Rockkonzert statt, als es zum Massaker und zur Geiselnahme kam. In dichter zeitlicher Folge gab es zudem insgesamt sechs Detonationen, die von Selbstmordattentätern mit Sprengstoffwesten ausgelöst wurden – am Stade de France, wo gerade ein Fußballspiel lief, sowie am Boulevard Voltaire. Gäste zahlreicher Bars, Cafés und Restaurants in den umliegenden Straßen wurden zudem Opfer von Schusswaffenangriffen. Nach Angaben der französischen Regierung wurden 130 Menschen getötet und 683 verletzt – an nur einem Abend.

Solch schreckliche Taten können aber nicht nur in Millionenmetropolen wie Berlin oder Paris geschehen. Denken wir nur an Emsdetten, Winnenden und Ansbach. Drei deutsche Städte – allesamt noch etwas kleiner als unser beschauliches Gifhorn –, die zu Synonymen geworden sind für Amokläufe an Schulen.

Dass es jederzeit und überall zu einer gefährlichen Situation kommen kann, lernen Polizistinnen und Polizisten bereits in ihrer Ausbildung. Später auf Streife verinnerlichen sie dies vollends: „Man bekommt einen Einsatz und hat eine gewisse Kenntnis davon, was der Anlass ist“, erklärt Uwe Jürges. „Wie es sich vor Ort dann aber wirklich darstellt, ist kaum vorauszusehen.“

Sind es also bloß zwei Betrunkene, die sich etwas ungelenk zu prügeln versuchen? Oder werden Unbeteiligte durch einen Attentäter gefährdet? Sind Täterin oder Täter womöglich psychisch verwirrt? Oder fest entschlossen und zu allem bereit? „Da ist immer die Herausforderung, auf jede Lage reagieren zu können“, sagt Uwe Jürges. „Bei jedem Einsatz aufs Neue.“

„Auch deshalb sind zwei zentrale Fragen immer Teil des Auswahlverfahrens angehender Polizistinnen und Polizisten“, so Christian Engel. Sie lauten: Sind Sie bereit, Ihren eigenen Körper einzusetzen? Und sind Sie auch bereit, eine Waffe einzusetzen? „Natürlich ist die Arbeit auch gefährlich“, sagt der Leiter Einsatz. „Aber das ist das ehrenamtliche Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr ja auch.“

Für den „Normalbürger“, wie Christian Engel sagt, wären die Situationen, in die sich Polizistinnen und Polizisten Tag für Tag begeben, hingegen weitaus gefährlicher. Zum einen gibt’s schließlich die Schutzkleidung: schusssichere Westen zum Beispiel, die bis zu einem gewissen Grad auch Angriffe mit Messern oder Schraubendrehern abwehren – und auch Fausthiebe in den Magen abpuffern.

„Im Streifendienst gehört die schusssichere Weste längst zur Standardausrüstung“, erklärt Uwe Jürges. Für gefährlichere Situationen sind Gifhorns Polizistinnen und Polizisten zudem mit Helmen und verstärkenden Protektoren ausgestattet. Und was ist mit Terroranschlägen oder Amoktaten an Schulen? „Wir haben auch Schutzausrüstung gegen Kriegswaffen“, sagt Christian Engel. „Aber die tragen wir natürlich nicht täglich, sonst laufen wir ja rum wie Robo-Cop.“

Zum anderen gehören wahrnehmungspsychologische Kenntnisse zur Polizeiausbildung: „Wir deuten die Mimik und Gestik unseres Gegenübers bereits, wenn Außenstehende dies noch gar nicht wahrnehmen“, so Christian Engel. Manchmal schlägt eine Situation im Bruchteil einer Sekunde um – doch schon der kleinste zeitliche Vorsprung ist von Vorteil: „Dieses Kommunikationstraining ist unser Handwerkszeug, um richtig reagieren zu können.“

Zu guter Letzt noch ein Punkt, der nicht vieler Worte bedarf: Einsatzerfahrung.

„Was kritische Einsatzlagen angeht, sind unsere Beamtinnen und Beamten sehr gut ausgebildet“, sagt Christian Engel, Leiter Einsatz der Polizeiinspektion Gifhorn.

Foto: Bastian Till Nowak

„Unsere Polizistinnen und Polizisten sind sehr gut ausgebildet. Alle haben ein Abi oder Fach-Abi und ein dreijähriges Bachelor-Studium hinter sich“, erklärt Christian Engel. „Wir stecken sehr viel mehr Energie in die Ausbildung, als es viele andere Länder tun.“ Persönlich sei er „sehr froh darüber“, dass man die Dienstmarke bei uns „nicht so einfach bekommt wie beispielsweise in den USA“.

Diese Ausbildung hilft, sich hochschaukelnde Situationen rechtzeitig zu erkennen – auch wenn die Umgebung unvertraut ist oder die Lichtverhältnisse es erschweren. Das Repertoire ist groß: Pfefferspray, Dienstwaffe, das gesprochene Wort oder auch die Hände. „In den allermeisten Fällen treffen die Kolleginnen und Kollegen die richtige Entscheidung, um eine Lage schnellstmöglich unter Kontrolle zu bringen“, sagt Uwe Jürges. Einsatzziel sei immer, Streitende zu trennen, Gefährdungen zu beenden. „Und um die Situation zu sichern, kommen dann auch manchmal Handfesseln zum Einsatz“, erklärt der Leiter des Einsatz- und Streifendienstes.

Gehen wir zurück zur Braunschweiger Straße, zurück zum 26. Juni 2021: „Ein Anrufer teilte den Streit mit, eine Funkwagenbesatzung machte sich auf den Weg und nahm zuerst Kontakt zum Anrufer auf“, berichtet Uwe Jürges. Soweit also alles Standardprozedere.

Vor Ort entwickelte sich dann jedoch eine völlig neue Situation: „Zwei unterschiedliche Parteien – schätzungsweise etwa 15 gegen 15 – gingen plötzlich aufeinander los“, so Uwe Jürges. Und was haben Ihre Leute dann getan? „Natürlich haben sie erst mal Verstärkung gerufen.“ Ein Rückzug sei nicht erforderlich gewesen: „Ziel der Aggression war ja nicht die Polizei. Wir müssen nicht in der Überzahl sein, denn wir haben eine von vielen Menschen anerkannte Mittler- und Schlichterrolle.“

Nicht die Dienstwaffe ist in so einem Fall also der Schlüssel zum Erfolg, sondern Kommunikation: „Wir versuchen auf die Leute einzuwirken, um zu deeskalieren.“ Selbstredend werden Beamtinnen und Beamte dann auch „stringenter und deutlicher im Ton“. Alles mit dem Ziel, potenzielle Täter zu überzeugen, von ihrem Handeln abzulassen.

„Man identifiziert schon auf den ersten Blick die Rädelsführer – auf diese muss man gezielt einwirken“, so Uwe Jürges. „Die Mitläufer hingegen bekommt man äußerst schnell dazu, dass sie nur noch an der Seite stehen und vielleicht noch ein bisschen rumpöbeln – aber eben nicht mehr mittendrin im Geschehen sind.“

Nur drei bis vier Minuten mussten die beiden Polizisten so überbrücken – „länger dauert es nicht, bis Verstärkung vor Ort ist“, so Christian Engel. „Gerade im Stadtgebiet können wir sehr schnell reagieren.“

Zudem rückte am 26. Juni auch die Bereitschaftspolizei aus Braunschweig an; die Braunschweiger Straße wurde zwischen Bahnhofstraße und Poststraße für den Straßenverkehr gesperrt. „Haben ist besser als Brauchen – wenn wir Verstärkung bekommen können, nehmen wir sie auch gerne“, antwortet Uwe Jürges auf die Frage, ob der Einsatz der Bereitschaft denn unbedingt nötig gewesen sei.

So jedenfalls habe man noch wesentlich schneller „Ruhe reinbekommen und den Einsatz abarbeiten“ können. Es folgten Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen beider Parteien. „Dabei wurden Tatmittel sichergestellt“, heißt es dazu im Polizeibericht. „Zudem wurden fünf Beteiligte der Auseinandersetzung in Gewahrsam genommen und mehrere Strafverfahren eingeleitet.“

Warum aber nicht der Warnschuss? Könnte er eine solche Situation nicht noch schneller beruhigen? „Nein“, sagt Christian Engel. „Der Schusswaffengebrauch ist die Ultima Ratio“ – also nur als letztmöglicher Weg gestattet. „Das sind Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Keine Streitereien auf offener Straße.“

Auf offener Flur könnte man einen solchen Schuss ja noch im Erdreich versenken – auf der Braunschweiger Straße, Gifhorns Pulsader, könnte ein Schuss auf den Asphalt jedoch zum Querschläger werden und Passanten gefährden. Und auch ein Warnschuss in die Luft könnte gefährlich werden.

So oder so komme ein Warnschuss in dieser Situation aber ohnehin nicht in Betracht. „Ein Warnschuss gilt rechtlich als Androhung des Schusswaffengebrauchs“, erläutert Christian Engel. „Er ist also überhaupt nur dann zulässig, wenn es auch ein gezielter Schuss wäre.“

Die Notwehr zur Verteidigung und die Nothilfe, wenn Leib und Leben anderer gefährdet sind, sind davon ausgenommen. Aber: „Wir werden niemals einen Warnschuss abfeuern, nur um Leute zu verschrecken oder zurückzudrängen“, sagt Christian Engel.

Und wie sieht‘s mit einem Rückzug aus? Frei nach dem Motto: Lasst sie sich doch prügeln... „Ein Rückzug wäre nur dann eine Option, wenn wir uns sonst in eine unkalkulierbare Gefahrensituation begeben müssten“, sagt Uwe Jürges und betont: „Aber nur temporär! Nur so lange, bis Verstärkung da ist – und das ist schnell.“ Die Polizei habe schließlich nicht ohne Grund das Gewaltmonopol, das es auch zu verteidigen gilt.

15 gegen 15 – und zwei Polizisten dazwischen: Bereitet die massive Unterzahl denn nicht Sorge? „Nein“, sagt Uwe Jürges. „Unser Ziel ist nicht die körperliche Auseinandersetzung. Unser Ziel ist, die Gruppen zu trennen.“

Und genau da hat man als Kleinstadtpolizei dann doch wieder einen entscheidenden Vorteil: „Oft kennt man einige der Personen ja schon und kann sie direkt mit Namen ansprechen“, verrät Uwe Jürges. „Die merken dann sehr schnell, dass sie nicht mehr anonym sind – und sie wissen, dass wir in Kürze vor ihrer Haustür stehen, selbst wenn sie sich aus dem Staub machen.“


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