Stolpersteine
Doppelt gedemütigt und verstümmelt: Heinrich Piepho lebte in Kästorfs Arbeiterkolonie – Zweimal zwangssterilisiert
Steffen Meyer Veröffentlicht am 07.01.2024Verfolgung, Verstümmelung, Ermordung – die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn ist dreistellig. Stolpersteine in unserer Stadt erinnern an sie. Die Biographien stellt KURT in einer Serie vor. In einem Gastbeitrag schildert Dr. Steffen Meyer, Historiker und Archivar der Dachstiftung Diakonie, diesmal die Geschichte von Heinrich Piepho, der bereits zwangssterilisiert nach Kästorf in die Arbeiterkolonie kam – und dann noch ein weiteres Mal die Demütigungen und Qualen über sich ergehen lassen musste.
Heinrich Piepho wurde am 9. März 1905 in Münder geboren. Er verließ die Schule nach der 5. Klasse und arbeitete gerade in einer Ziegelei, als ihn der Kreisarzt aus Springe im April 1934 zu einer amtsärztlichen Untersuchung einbestellte. Den Grund erfuhr Heinrich Piepho spätestens am Untersuchungstag: Eine namentlich nicht bekannte Person hatte ihn verdächtigt, erbkrank zu sein und im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses angezeigt.
Der Kreisarzt klärte Piepho über das Gesetz auf und diagnostizierte nach einer Untersuchung mit anschließendem Intelligenztest „angeborenen Schwachsinn“, aus Sicht des Gesetzgebers eine Erbkrankheit, die es „auszumerzen“ galt. Nach Aushändigung eines Merkblattes über die Unfruchtbarmachung und Feststellung der Geschäftsfähigkeit forderte der Kreisarzt Heinrich Piepho auf, selbst einen Antrag auf Unfruchtbarmachung zu stellen. Piepho kam dieser Aufforderung nach und nur wenige Tage später trafen seine vom Kreisarzt eingereichten Unterlagen beim Erbgesundheitsgericht Hannover ein. Das Gericht beschloss in einer Sitzung vom 4. Juni 1934 die Unfruchtbarmachung, die am 18. August 1934 im Kreiskrankenhaus Hameln durchgeführt wurde.
Die Spur von Heinrich Piepho verläuft sich nach seiner Sterilisation, bis er am 9. August 1935 in den Kästorfer Anstalten eintraf. Laut Aufnahmebucheintrag war er vor seiner Ankunft als Arbeiter ohne festen Wohnsitz umhergewandert. Piepho bezog ein Quartier in der Arbeiterkolonie, wo er lebte und arbeite.
Zu dieser Zeit erwartete Anstaltsvorsteher Martin Müller Besuch von Landesmedizinalrat Dr. Walter Gerson aus Göttingen, der sich für psychiatrische Untersuchungen in Kästorf angekündigt hatte. Wie bei den vorherigen Besuchen von Walter Gerson auch, traf Martin Müller im Vorfeld eine Vorauswahl und stellte Listen von Bewohnern zusammen, die nach seiner Einschätzung unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fielen und von Gerson untersucht werden sollten. Auf einer Liste stand der Name von Heinrich Piepho.
Die Untersuchung in der Arbeiterkolonie fand am 11. September 1935 statt. Als Piepho an der Reihe war, konnte oder wollte er sich nicht zu seinem Sterilisationsverfahren aus dem Jahr 1934 äußern. So klärte Walter Gerson Heinrich Piepho über das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses auf, diagnostizierte „angeborenen Schwachsinn“ und erstellte ein Sterilisationsgutachten. Bei der Intelligenzprüfung bereiteten Piepho die Fragen zur Orientierung, zum Schulwissen oder die speziellen Fragen aus dem Beruf nur wenige Probleme. Allerdings konnte er, wie schon ein Jahr zuvor, keine der zwölf Rechenaufgaben lösen.
Das Gutachten reichte Anstaltsvorsteher Müller zusammen mit einer Anzeige beim Gifhorner Gesundheitsamt ein, wo Amtsarzt Dr. Bernhard Franke den Antrag ausfüllte und die Unterlagen ohne nähere Prüfung an das Erbgesundheitsgericht Hildesheim weiterleitete.
Am 26. September 1935 meldete sich das Erbgesundheitsgericht Hildesheim bei Bernhard Franke und forderte ihn auf, Heinrich Piephos Gutachten zu ergänzen und der Frage nachzugehen, ob für ein Verfahren die Bestellung eines Pflegers nötig sei. Franke, der daraufhin mit Piepho in Kontakt treten musste, schickte eine Woche später ein Schreiben mit folgendem Inhalt an das Gericht zurück: „Ich bescheinige hiermit, daß eine Verständigung mit Heinrich Piepho, zur Zeit wohnhaft in Kästorf-Anstalten/Kreis Gifhorn, über das Wesen und die Folgen der Unfruchtbarmachung nicht möglich ist. Die Bestellung eines Pflegers ist erforderlich.“
Das Erbgesundheitsgericht Hildesheim ordnete daraufhin eine Pflegschaft an, worauf das dafür zuständige Amtsgericht Gifhorn den Hausvater der zu den Kästorfer Anstalten gehörenden Trinkerheilstätte Stift Isenwald, Karl Mertens, ersuchte, die Pflegschaft zu übernehmen. Offensichtlich sah man sich in Kästorf durch diese unerwartete Verzögerung genötigt zu reagieren, denn Vorsteher Müller schickte am 15. Oktober 1935 unaufgefordert ein von Heinrich Piepho unterzeichnetes Schreiben mit folgendem Wortlaut an das Erbgesundheitsgericht Hildesheim: „Mit meiner angeordneten Unfruchtbarmachung erkläre ich mich einverstanden. Heil Hitler!“ Die von Piepho unterzeichnete Einverständniserklärung widersprach einerseits der Aussage des Gifhorner Amtsarztes über die fehlende Geschäftsfähigkeit. Andererseits waren bis zu diesem Zeitpunkt weder ein Pfleger rechtskräftig bestellt noch eine Unfruchtbarmachung angeordnet worden.
Das Verfahren fand schließlich am 16. November 1935 in Hildesheim ohne Anhörung von Heinrich Piepho oder weiteren Zeugen statt und endete mit der Verkündung des Sterilisationsbeschlusses. In der Begründung hieß es: „Der Antrag auf Unfruchtbarmachung des am 9. März 1905 geborenen Arbeiters Heinrich Piepho wegen angeborenen Schwachsinns, ist gesetzmäßig gestellt. Pfleger ist bestellt. Piepho ist nur bis zur fünften Klasse gekommen. Er hat sehr schlecht gelernt, er ist neurologisch o.B. [ohne Befund, Anm. d. Red.] Kaum eine Frage des Intelligenzprüfungsbogens wird richtig beantwortet. Es handelt sich um hochgradigen Schwachsinn, also eine Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes. Seine Unfruchtbarmachung wird daher vom Gericht angeordnet.“
Die Fragen des Intelligenztests, die Heinrich Piepho richtig beantwortet hatte, berücksichtigte das Gericht bei seiner Entscheidung nicht. Da Karl Mertens als gesetzlich bestellter Pfleger und Bernhard Franke als zuständiger Amtsarzt schriftlich auf das Rechtsmittel der Beschwerde verzichteten, wurde der Beschluss rechtskräftig und Heinrich Piepho im Dezember 1935 in das Allgemeine Krankenhaus Celle eingewiesen. Dort trennte man ihm am 12. Dezember die Samenleiter durch – zum zweiten Mal und offensichtlich ohne, dass dies jemandem auffiel.
Der Eingriff verlief nach Auskunft des operierenden Arztes ohne Komplikationen und Heinrich Piepho kehrte am 18. Dezember 1935 in die Kästorfer Anstalten zurück. Dort hielt er sich noch ein halbes Jahr in der Arbeiterkolonie auf, die er am 2. Juli 1936 auf eigenen Wunsch verließ. Ein Eintrag im Aufnahmebuch deutet darauf hin, dass er wie viele andere Koloniebewohner ohne genaues Ziel auf „Wanderschaft“ ging. Danach verläuft sich seine Spur.
Ein letzter Akteneintrag vermerkt, dass das Reichsgesundheitsamt in Berlin-Dahlem die Akten der Erbgesundheitsgerichte Hannover und Hildesheim über die Sterilisationsbeschlüsse von Heinrich Piepho am 31. Mai 1941 an das Gesundheitsamt Springe gesandt hat. Gestorben ist Heinrich Piepho am 8. Mai 1971 in Emstal.
Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf. Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro: