Stolpersteine

Zwangssterilisiert wegen „Schwachsinn“: NS-Opfer Hans Löwenstein lebte im Kästorfer Erziehungsheim Rischborn

Steffen Meyer Veröffentlicht am 08.01.2023
Zwangssterilisiert wegen „Schwachsinn“: NS-Opfer Hans Löwenstein lebte im Kästorfer Erziehungsheim Rischborn

Der Stolperstein für das NS-Opfer Hans Löwenstein: Verlegt auf dem Gelände der Kästorfer Diakonie im Oktober.

Foto: Mel Rangel

Stolpersteine erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn – ihre Biographien stellt KURT in einer Serie vor. Diesmal geht es um Hans Löwenstein, der als 14-Jähriger ins Kästorfer Erziehungsheim Rischborn kam und vom Amtsarzt mehrfach untersucht wurde. Die dritte Diagnose lautete: „angeborener Schwachsinn“. Infolge der Behandlung wurde Hans Löwenstein – wie viele andere im Erziehungsheim – zwangssterilisiert. Seine Geschichte erzählt Historiker Dr. Steffen Meyer in einem Gastbeitrag für KURT.

Hans Löwenstein wurde am 29. März 1919 geboren. Er hatte zwei ältere Schwestern und wuchs bei seiner alleinerziehenden Mutter in Hannover auf. Der Vater verstarb 1921 an einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Verletzung.

Hans Löwenstein ging auf eine Hilfsschule und kam am 25. Januar 1934 auf Weisung des Städtischen Jugendamtes Hannover in das Erziehungsheim Rischborn. Hier wurde er von Landesmedizinalrat Dr. Walter Gerson psychiatrisch untersucht, der sich Anfang Februar mehrere Tage in Kästorf aufhielt, um psychiatrische Untersuchungen im Erziehungsheim und in der Arbeiterkolonie vorzunehmen. Walter Gerson diagnostizierte bei dem damals 14-jährigen Jungen eine erhebliche Milieuschädigung und Debilität. Er bezeichnete ihn als „Muttersöhnchen“ und äußerte den Verdacht, dass Hans Löwenstein psychopathische Züge erkennen lasse. Gerson empfahl zwar eine Anzeige im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, aber keine Antragstellung.

Im Mai 1934 musste sich Hans Löwenstein im Rahmen einer weiteren psychiatrischen Untersuchung bei Walter Gerson vorstellen, der danach nur knapp notierte: „Entwicklung abwarten.“ Anschließend lebte Löwenstein zusammen mit rund 50 anderen Jugendlichen im Erziehungsheim, bis ihn die Einrichtung am 19. Februar 1935 als landwirtschaftlichen Gehilfen zu einem Bauern in Dienst gab. Was genau auf dem Hof in der Ortschaft Osloß geschah, muss unklar bleiben; offenbar ergriff Hans Löwenstein eines Tages die Flucht, denn am 22. September 1935 kehrte er aus dem Gefängnis zurück ins Erziehungsheim.

Jugendliche des Erziehungsheims mit Hausmutter und Hauswirtschaftsgehilfin beim Bohnen schnippeln im Jahr 1937.

Foto: Sammlung Archiv der Dachstiftung Diakonie

Wenige Wochen später erfolgte die dritte psychiatrische Untersuchung in den Kästorfer Anstalten und jetzt, am 5. Dezember 1935, fertigte Walter Gerson ein Sterilisationsgutachten an. Gerson bezeichnete Löwenstein als erheblich schwachsinnigen, moralisch minderwertigen und psychopathischen Jugendlichen und diagnostizierte „Angeborener Schwachsinn“, nach den Kriterien des Gesetzgebers eine Erbkrankheit, die es durch Unfruchtbarmachung „auszumerzen“ galt. Am 18. Dezember 1935 reichte Anstaltsvorsteher Martin Müller das psychiatrische Gutachten beim Gifhor-
ner Gesundheitsamt ein und bat Amtsarzt Dr. Bernhard Franke darum, einen Antrag auf Unfruchtbarmachung zu stellen. Franke kam der Bitte nach und leitete alle Unterlagen an das Erbgesundheitsgericht Hildesheim weiter, das am 26. März 1936 die Unfruchtbarmachung von Hans Löwenstein beschloss. Gegen den Beschluss legte die Mutter von Hans Löwenstein Beschwerde ein, was bei Bewohnern der Kästorfer Anstalten sehr selten vorkam. Das Erbgesundheitsobergericht Celle befasste sich mit dem Fall und wies am 5. Mai 1936 ohne Anhörung des Betroffenen die Beschwerde zurück. Landesmedizinalrat Walter Gerson sei besonders berufen, Schwachsinn zu erkennen, hieß es in der Begründung des Gerichts. Außerdem sei Hans Löwenstein nicht nur ein bisschen, sondern erheblich schwachsinnig, moralisch minderwertig und dazu psychopathisch. Dem entspreche auch der Intelligenzprüfungsbogen.

Am 12. Juni 1936 brachte ein Erzieher Hans Löwenstein in das Allgemeine Krankenhaus Celle, wo er am 19. Juni sterilisiert wurde. Wie es dem damals 17-jährigen Jungen im Krankenhaus erging, wissen wir dank eines Dokuments, das im Archiv überliefert ist: Hans Löwenstein hatte dem Hausvater des Erziehungsheimes Rischborn, Albert Hellwig, nach der Rückkehr einen Bericht über seinen Krankenhausaufenthalt erstattet, der seinen mehrtägigen Leidensweg vor und nach der Sterilisierung zum Inhalt hat. Bereits kurz nach der Ankunft fühlte sich Hans Löwenstein von einem Pfleger bloßgestellt, der vor anderen Patienten verkündete, dass er sterilisiert werden würde. Danach wurde die Operation zweimal kurzfristig verschoben, obwohl Löwenstein zuvor schon auf den Eingriff vorbereitet worden war. Dafür hatte man ihn an den entsprechenden Stellen rasiert und ihm kein Essen mehr gegeben.

Am 15. Juni kehrte Hans Löwenstein schließlich morgens von einem Spaziergang in sein vollbelegtes Vierbettzimmer zurück. Am Kopfende seines Bettes waren für alle gut sichtbar Schriftstücke des Erbgesundheitsgerichts Hildesheim und weitere vertrauliche Schreiben angebracht, die sich ein Mitpatient gerade durchlas, als Löwenstein das Zimmer betrat. Erst nach seinem Protest wurden die entsprechenden Schriftstücke entfernt. „Über diese Bloßstellung habe ich mich sehr geärgert“, gab Löwenstein zu Protokoll.

Unmittelbar vor der Entlassung kam es dann zu einer weiteren unangenehmen Situation für Hans Löwenstein. Der Pfleger, der ihn bereits zu Beginn seines Aufenthalts bloßgestellt hatte, griff ihm an die frisch operierte Stelle, woraufhin die Narbe aufriss. Hans Löwenstein meldete den Vorfall umgehend einer Krankenschwester, „die darauf sagte, so etwas müßte angezeigt werden, das wäre ja furchtbar“.

Diese Aufnahme von Hans Löwenstein (oben rechts) ist sehr wahrscheinlich in den 50er Jahren entstanden.

Foto: Privat

Ob es zu einer Anzeige oder weiteren Aufklärung kam, ist allerdings anzuzweifeln. In einem Brief, den die Krankenschwester später an Anstaltsvorsteher Martin Müller schrieb, drückte sie ihr Bedauern über den Vorfall aus, ohne Hans Löwenstein oder mögliche Konsequenzen zu erwähnen. Ihr Mitgefühl galt in erster Linie dem Kästorfer Anstaltsvorsteher: „Es tut mir sehr leid, daß Ihnen die an sich schon schwere Arbeit noch auf solche Weise erschwert wird.“

Hans Löwenstein kehrte am 25. Juni 1936 aus dem Krankenhaus zurück und blieb nur noch kurze Zeit im Erziehungsheim Rischborn. Anfang Juli kam er wieder zu einem Bauern in Dienst, dieses Mal nach Westerbeck. Wie schon beim ersten Landwirt hielt es Hans Löwenstein auch hier nicht lange aus und floh von seiner Dienststelle. Nach seiner Ergreifung kehrte er am 26. Juli 1936 nach Kästorf zurück, von wo aus er eine Woche später in das Provinzialerziehungsheim Göttingen verlegt wurde.

Auf einer Personenregisterkarte, die im Stadtarchiv Hannover überliefert ist, hat Hans Löwenstein noch einige Spuren hinterlassen. Er kehrte im Dezember 1938 aus Göttingen zu seiner Mutter nach Hannover zurück, danach sind Aufenthalte in Kiel, Bremerhaven und erneut in Hannover bei der Mutter überliefert. Am 1. September 1940 trat Hans Löwenstein eine Strafe in einer Hamburger Haftanstalt an. Warum er verurteilt wurde und wie lange der Aufenthalt dauerte, muss unklar bleiben.

Nach dem Krieg lebte Hans Löwenstein zunächst wieder in Hannover, dort, wo auch seine Mutter gemeldet war, die am 25. Februar 1951 starb. Hans Löwenstein, der unter anderem als Krankenpfleger arbeitete, war zweimal verheiratet, beide Ehen wurden geschieden. Gestorben ist er am 21. Juli 1965 in Gehrden in der Nähe von Hannover. Eine Tochter aus der ersten Ehe lebt heute in Nordrhein-Westfalen.


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