Raum für Notizen

Wenn‘s brennt, hilft Bier nicht: Die Verteilung der Kassensitze für Psychotherapie stößt bei unserer Kolumnistin auf Unverständnis

Marieke Eichner Veröffentlicht am 24.02.2023
Wenn‘s brennt, hilft Bier nicht: Die Verteilung der Kassensitze für Psychotherapie stößt bei unserer Kolumnistin auf Unverständnis

Der Mensch, der für die Anzahl der Kassensitze für Psychotherapie in Deutschland mitverantwortlich ist, meint, eine Flasche Bier tue es manchmal auch. KURT-Kolumnistin Marieke Eichner fragt sich, was das soll.

Foto: Alex Green/Pexels

In verlässlicher Tradtion sind Notaufnahmen an Silvester voller Menschen, die sich alkoholinduziert verletzt haben. Hand aufs Herz: Haben Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, auch schon mit elitärem Augenrollen über derlei idiotische – weil vermeidbare – Zustände geärgert? Ich auch. Mache ich jetzt aber nicht mehr.

Denn sich im Vollrausch die Finger wegzuböllern ist eine Sache. Sich beim uneleganten Abgang vom Stromkasten, von dem man so schön das Feuerwerk sah, die Kapsel im Finger zu reißen, eine andere. Eine Sternstunde menschlicher Vernunft ist beides nicht. Lichtblicke: Ich bin in einer Notaufnahme mit Kaffeeautomat gelandet und ein Buch kann man auch einhändig lesen. Trotzdem: Selten habe ich trostlosere sieben Stunden verbracht.

Weit nach dem Einsetzen demotivierender Dämmerung wird mein Finger geröntgt und geschient. Ein paar Tage später verpasst mir ein Arzt ein Buddytape, dessen Namen ich lustig finde, und Schmerztabletten, deren Wirkung ich erleichternd finde. Natürlich habe ich mir in meiner Dämlichkeit ausgerechnet eine Kapsel der rechten Hand gesprengt. Nicht schmerzfrei schreiben zu können, damit kann ich leben. Was mir den letzten Nerv raubt, ist die ständige Heulerei.

Manchmal wache ich morgens auf und werde zum Zimmerspringbrunnen. Einfach so. Weil ich aufstehen muss. Weil ich zur Arbeit gehen muss. Weil mir einfach alles zu viel ist. Nachts träume ich von meiner wuchernden To-do-Liste, jegliche menschliche Kommunikation ist eine Belastung, für alles was ich tue brauche ich erschreckend lang, ich bin ständig müde. Habe ich eine ruhige Minute, dreht das Gedankenkarussell auf Schleudergang.

Man sollte die Feuerwehr nicht erst rufen, wenn die Flammen schon bis zum Dachstuhl lodern. Und deshalb möchte ich mit einer Psychotherapeutin oder einem Therapeuten sprechen. Schließlich haben jede und jeder vierte Erwachsene und immer mehr Jugendliche in Deutschland psychische Erkrankungen. Dennoch wartet man durchschnittlich sechs Monate auf einen Therapieplatz. Dagegen sind sieben Stunden Notaufnahme nichts.

Dabei gibt‘s genug Therapeutinnen und Therapeuten, nur zu wenige, die mit den Krankenkassen abrechnen dürfen, also einen Kassensitz haben. Wer den bekommt, bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss, dessen demokratische Legitimität das Bundesverfassungsgericht anzweifelt. Laut unabhängigen Berechnungen fehlen 7000 Kassensitze. Laut dem Ausschussvorsitzenden nur knapp 800. Man benötige nicht für jeden Bürger einen Psychotherapeuten, hat er laut „Spiegel“ 2013 in einer Sitzung dieses Gremiums gesagt, eine Flasche Bier tue es manchmal auch.

Aus eigener Erfahrung rate ich davon ab. Hingegen habe ich als Jugendliche durch eine Psychotherapie das selbstverletzende Verhalten abgelegt. Bald sind‘s zehn Jahre ohne. Das will ich schaffen. Darum werde ich meinen Platz finden.

KURT-Kolumnistin Marieke Eichner schreibt die monatliche Kolumne „Raum für Notizen“. Leserbriefe gern an redaktion@kurt-gifhorn.de.


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