Stadtgespräch

Vielen Obdachlosen droht der Kältetod – Gifhorns Bürgermeister Nerlich will Warnungen vom Tagestreff Moin, moin nun Taten folgen lassen

Bastian Till Nowak Veröffentlicht am 02.09.2020
Vielen Obdachlosen droht der Kältetod – Gifhorns Bürgermeister Nerlich will Warnungen vom Tagestreff Moin, moin nun Taten folgen lassen

Bundestagsabgeordnete Ingrid Pahlmann (von links) und Gifhorns Bürgermeister Matthias Nerlich besuchten am Mittwoch die „Moin-moin“-Mitarbeiter Elisabeth Behrends, Ralf Maletz, Sandra Brünger und Uwe Bilau.

Foto: Çağla Canıdar

Wie ergeht es eigentlich den obdachlosen Menschen in der Corona-Pandemie? Das wollte Gifhorns Bürgermeister Matthias Nerlich wissen – und besuchte deshalb am letzten Tag seiner Sommertour den Tagestreff „Moin, moin“ an der Braunschweiger Straße. Die Arbeit dort geht – wenn auch mit Einschränkungen – weiter. Was Sandra Brünger, Regionalleiterin in der Wohnungslosenhilfe der Diakonie, jedoch große Sorgen bereitet, sind die kommenden Monate: „Ich fürchte, dass es im Herbst und Winter mehr Kältetote geben wird.“

Doch warum sollten in Zeiten der Pandemie mehr Menschen nachts auf den Straßen erfrieren, als in all den Jahren zuvor? Die Antwort ließ nicht nur Bürgermeister Nerlich, sondern auch die Gifhorner Bundestagsabgeordnete Ingrid Pahlmann aufhorchen: „Seit Beginn der Corona-Einschränkungen werden keine Neuen mehr ins Obdach aufgenommen“, erläuterte Sandra Brünger.

Zwar gebe es für jeden Menschen einen Rechtsanspruch auf eine warme Unterkunft – doch Bund, Länder und Kommunen verständigten sich laut der Mitarbeiter im „Moin, moin“ sofort zu Anfang der Corona-Zeit darauf, dass man das Von-Ort-zu-Ort-Wandern von obdachlosen Menschen möglichst unterbinden wollte. Klar, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Und seitdem gibt es Obdachlosenunterkünfte eben nur noch für jene, die schon zu Beginn der Pandemie an Ort und Stelle waren.

Wer neu in eine Stadt kommt und nach Obdach ersucht, wird wieder zurückgeschickt – unter den davon betroffenen Menschen habe sich das schnell herumgesprochen, berichtete Sandra Brünger. Obdach gebe es jetzt nur noch in jener Kommune, in der man zuletzt gemeldet war. Die Wanderbewegungen seien tatsächlich zum Erliegen gekommen. Das Ziel wurde also erreicht.

Doch damit ergeben sich nun neue Probleme: Denn was wird aus jenen, die erst jetzt auf der Straße landen oder in den zurückliegenden Wochen gelandet sind? Die in Zeiten von Corona vielleicht erst ihren Job und dann ihre Bleibe verloren haben? Für sie gibt es keine Obdachlosenunterkünfte mehr, die vorhandenen Plätze sind belegt – und weitere sollten ja eh nicht aufgenommen werden.

Ingrid Pahlmann (links) und Matthias Nerlich nehmen die Worte der „Moin-moin“-Mannschaft ernst.

Foto: Çağla Canıdar

Zuletzt hätten sich viele damit abgefunden, so Sandra Brünger. Unter einer Brücke oder auf einer Parkbank seien die Nächte bei nicht allzu niedrigen Temperaturen ja durchaus noch erträglich gewesen. Doch allmählich wird es ernst: Wenn es nicht bald weitere Unterkunftsplätze gibt, drohe manchem eben der Kältetod.

Gifhorns Bürgermeister Matthias Nerlich ist alarmiert: „Dann müssen wir eben schnelle und einfache Lösungen finden“, befand er und überlegte sogleich: „Vielleicht einen Kita-Container, den wir andernorts eh abbauen würden, oder ein beheiztes Zelt?“ Und mit Blick zur Bundestagsabgeordneten Ingrid Pahlmann schloss er fordernd an: „Vielleicht möchte sich der Staat ja auch daran beteiligen, wenn die Kommunen dabei sind, Lösungen zu finden und zu finanzieren?“ Die Parlamentarierin mochte das nicht voreilig zusagen, versprach aber: „Ich nehme das auf jeden Fall mit nach Berlin.“

Für diejenigen Obdachlosen, die zu Beginn der Corona-Einschränkungen Zuflucht in der städtischen Notunterkunft am Gifhorner Kiebitzweg suchten, könnten die zurückliegenden Monate hingegen freier von mancher Sorge gewesen sein. Denn wo vorher nur übernachtet werden durfte und die Schlafgäste jeden Morgen wieder das Feld räumen mussten, gelten seither neue Regeln: Die Anzahl der Plätze in der Unterkunft wurde zwar von 17 auf 10 verringert, um mehr Abstand und Hygiene zu ermöglichen; doch wer schon da war, durfte bleiben – und das jetzt auch tagsüber.

Die Mitarbeiter vom „Moin, moin“ erkannten aber auch da sofort wieder ein neues Problem: „In der Notunterkunft am Kiebitzweg haben die Menschen nur ein Bett und einen Stuhl – keinen Kühlschrank und auch keine Waschmaschine. Wozu auch? Bisher mussten sie ja nach jeder Nacht auch wieder abziehen“, erklärte Sozialarbeiter Uwe Bilau beim Besuch des Bürgermeisters.

Also ergriffen die Sozialarbeiter die Initiative: Seit Monaten packen sie jeden Morgen Lunch-Pakete und bringen diese in den Kiebitzweg – auch um mit den dort lebenden Menschen ins Gespräch zu kommen, um ihnen in schweren Situationen zur Seite stehen zu können.

Im „Moin, moin“ hingegen hat sich einiges verändert – anderes wiederum ist gleich geblieben; doch das wissen noch lange nicht alle, die es interessieren dürfte.

Hier gehen wohnungs- und mittellose Menschen ein und aus, hier bekommen sie Essen, hier können sie sich duschen und ihre Wäsche waschen, hier werden sie beraten und hier treffen sie beim Gespräch oder bei der Zigarette im Innenhof auf Menschen, denen sie nicht erst alles haarklein erklären müssen, sondern die verstehen, wie es ihnen ergeht, weil sie dieselben Erfahrungen teilen. Normalerweise ist das so – doch in Zeiten von Corona ist nun eben alles ein bisschen anders.

Sozialarbeiter Bilau und seine beiden Kollegen Elisabeth Behrends und Ralf Maletz erläuterten, wie es im „Moin, moin“ jetzt läuft: „Anfangs durften wir gar kein Essen mehr ausgeben, die Vordertür war stets verschlossen, obwohl wir in den hinteren Räumen natürlich auch weiterhin Einzelberatungen anboten.“ Die Mund-zu-Mund-Propaganda unter den Klienten verkürzte dies jedoch auf ein knappes: „Das ’Moin, moin’ hat zu!“ Auch zu den Beratungen kamen nur noch wenige.

Inzwischen gibt es wieder Essen im „Moin, moin“: Wo vorher Frühstück für 1 Euro und Mittagessen für 2 Euro angeboten wurden, gibt es jetzt aber nur noch eine Mahlzeit am Tag – die jedoch kostenfrei! „Mal ein vollwertiges Mittagessen, aber auch mal Suppe, Salat und Baguette oder etwas völlig anderes“, so Uwe Bilau. Und warum nun völlig kostenfrei? „Ach, wir dachten uns, es gibt jetzt eh schon genug Probleme und Einschränkungen, da wollten wir damit wenigstens ein kleines bisschen entlasten...“

Während Bund und Länder also Förderprogramme für Unternehmen auflegten, hat das „Moin, moin“ ein Hilfsprojekt gestartet, dass den wohl Schwächsten in unserer Gesellschaft zugute kommt. Und so lange die Spenden – für die sich die Mannschaft vom „Moin, moin“ aufs Herzlichste bedankt – nicht ausgehen, soll es mit dem kostenfreien Essen weitergehen.

Matthias Nerlich (rechts) versprach, sich um akute Probleme zu kümmern.

Foto: Çağla Canıdar

Die Vordertür ist aber nach wie vor verschlossen – eingetreten wird nur einzeln, Handflächen müssen desinfiziert und außer beim Essen muss ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden. „Und wenn der Andrang zum Monatsende besonders groß wird, müssen einige erst mal draußen warten, bis drinnen alle nach spätestens 40 Minuten aufgegessen und das ’Moin, moin’ wieder verlassen haben“, erklärte Uwe Bilau. „Dann werden alle Tische desinfiziert, und dann darf die nächste Belegschaft rein.“

Soziale Kontakte werden so allerdings auf ein Minimum begrenzt. In Vor-Corona-Zeiten verbrachte mancher seinen halben Tag im „Moin, moin“, konnte Karten spielen und traf eigentlich immer auf Bekannte oder auf Menschen, denen es ähnlich ergeht. All das fehlt nun natürlich völlig.

„Wer ernsthafte Probleme hat, für den hat sich kaum etwas geändert – denn unsere Beratungsangebote gibt es natürlich weiterhin“, erläuterte Uwe Bilau. „Wer jedoch nur gekommen ist, um Kontakt zu anderen Menschen zu haben, um zusammenzusitzen, zu rauchen und zu quatschen, der hat mit Corona natürlich so richtig ins Klo gegriffen...“

Tagestreff „Moin, moin“
Braunschweiger Straße 56, Gifhorn
Tel. 05371-8979110
E-Mail: tagestreff.moinmoin@diakonie-dwb.de
Mo. – Fr. 9 bis 14 Uhr
Wochenends und feiertags 9 bis 13 Uhr

Spendenkonto:
Stiftung Wohnen und Beraten
IBAN: DE 88 2695 1311 0161 1761 28
BIC: NOLADE 21 GFW


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