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Unsere Aktionen zeigen, dass man nicht alleine ist: Cindy und Saskia machen Catcalling in Gifhorn sichtbar

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 04.03.2023
Unsere Aktionen zeigen, dass man nicht alleine ist: Cindy und Saskia machen Catcalling in Gifhorn sichtbar

Auf Gifhorns straßen aktivistisch unterwegs: Cindy (links) und Saskia kreiden Catcalling-Vorfälle, also öffentliche und vor allem sexuelle Belästigungen an.

Foto: Çağla Canıdar

Sichtbarmachen, Grenzen ziehen, Selbstermächtigung: Die Gifhornerinnen Cindy Hellmann und Saskia Pribyl erzählen mit Kreide-Kunst und ihrem Projekt „Catcalls of Wolfsburg & Gifhorn“ die Geschichten von Personen, die auf offener Straße belästigt werden. KURT hat sie auf dem Schillerplatz getroffen.

Eben noch war alles okay. Ein guter Abend mit Freunden geht zuende, 20 Minuten Heimweg, nicht die Welt. Keine Menschenseele weit und breit. Aus dem Dunkel der Nacht tritt plötzlich eine Gestalt auf, belabert und bedrängt einen. Was jetzt machen?

Vermutlich ist fast jedem Mädchen, jeder Frau diese Situation mindestens einmal im Leben passiert. „Catcalling“ nennt sich das Phänomen, bei dem betroffene Personen auf offener Straße – auch in Gifhorn – belästigt werden. Vom Nachpfeifen über das Verfolgen bis hin zum körperlichen Bedrängen – wo Catcalling beginnt und aufhört, ist schwer zu sagen. Aus dem Englischen übersetzt bedeutet es „Katzenruf“ und meint damit das Herbeirufen, so wie Herrchen und Frauchen eben das Haustier anweisen.

Wer in Gifhorn und Wolfsburg belästigt wird, kann sich nun Cindy Hellmann und Saskia Pribyl mitteilen. Unter „Catcalls of Wolfsburg & Gifhorn“ führen die beiden Gifhornerinnen bei Instagram und TikTok Accounts. Betroffene sollen sich dort melden – dann beginnt der Aktivismus. Cindy und Saskia schnappen sich ihre Kreide und schreiben die Belästigungen Wort für Wort auf die Straße, und zwar an den Orten, wo sie passiert sind. Nur Passantinnen und Passanten, die ihre Augen verschließen, gehen darüber hinweg. Alle anderen halten an und lesen. „Es kommt öfters vor“, erzählt die 28-jähige Saskia, „dass Passanten stehenbleiben, während wir ankreiden. Größtenteils nehmen sie es positiv auf und fragen interessiert, was wir da machen.“ Dann erklären die beiden, was es mit dem Kreiden auf sich hat.

Doch es passiert auch, dass man direkt auf eine betroffene Person trifft, die etwas zu berichten hat. „Vor kurzem hat eine Frau angehalten, sie war bestimmt 60. Sie hat uns erzählt, dass sie letztens im Bus einen dummen Spruch kassieren musste. Sie sagte, sie hat sich so unwohl gefühlt und wusste gar nicht, wie sie reagieren soll. Dass ihr das in ihrem Alter noch passiert, meinte sie. Man steht dann ja auch unter Schock“, so Saskia.

„Es kommt öfters vor, dass Leute stehenbleiben, während wir kreiden. Größtenteils nehmen sie es positiv auf und fragen, was wir da machen“, sagt Saskia Pribyl, Aktivistin von Catcalls of Wolfsburg & Gifhorn.

Foto: Çağla Canıdar

Häufig sind die Opfer von Catcalling weiblich und jung, meistens sogar minderjährig, und die Täter männlich. Doch Cindy und Saskia bekommen auch Belästigungen von tendenziell weiblich gelesenen Personen gemeldet, Queerfeindlichkeit und Rassismus.

„Das Schlimme an Catcalls ist, dass man so allein ist und sich selbst die Schuld für diese Erfahrung gibt“, erzählt Cindy. Auch sie kennt sich mit Belästigungen auf offener Straße aus. Ein Erlebnis prägte sich dabei besonders ein: die Silvesternacht 2019. Auf dem Weg vom Club nach Hause – es war 4 Uhr – wird sie von einem jungen Mann angesprochen, weit jünger als sie. Gegen ihren ausdrücklichen Willen begleitet er sie bis nach Hause, das Handy ist aus, sie versucht beim Hauseingang zu lügen, er checkt die Lage, versucht sich bis zu ihrer Wohnungstür durchzukämpfen, lacht sie hämisch aus – es wird körperlich. Zwei Stunden dauert diese Belagerung. Erst der Zufall rettet Cindy aus der Lage, ein Freund taucht in der Straße auf, der junge Mann flüchtet.

Infolgedessen engagiert sich Cindy bei Catcalls Hannover, es ist der erste deutsche Ableger. Der Kontakt zu Saskia, die ebenfalls Erfahrungen der Belästigung gemacht hat, besteht seit Teenagerzeit, wird aber intensiver. Zurück in Gifhorn eröffnen die beiden die Seite „Catcalls of Wolfsburg & Gifhorn“, inzwischen sind es rund 550 Follower. Und die versorgen die Aktivistinnen mit Geschichten.

Eine von ihnen ereignet sich beim Gifhorner Altstadtfest, sie ist mehr als 20 Jahre her – und doch erzählt die Frau sie heute noch. Sie wirkt nach. Cindy und Saskia haben sie vor den Ratsweinkeller gemalt. Eine andere ist noch sehr frisch und handelt vom übergriffigen Umgang eines Gymnasiallehrers aus dem Landkreis gegenüber seinen Schülerinnen.

„Sie grölten mir zu. Einer versuchte mich vom Fahrrad zu reißen“ – diese Belästigung malten Cindy Hellmann und Saskia Pribyl auf den Schillerplatz in Gifhorn.

Foto: Çağla Canıdar

„Die Leute schreiben uns einen Text und schütten ihr Herz aus“, sagt Saskia. Was die beiden Frauen und ihre Quellen verbindet, sind aber nicht nur die schlimmen Erfahrungen. Das Ankreiden verstehen die Gifhornerinnen als Sichtbarmachen. „Ich glaube“, sagt Cindy, „es macht allen Betroffenen Mut, dass man nicht alleine ist und dass es andere Personen gibt, die über ihre Erfahrungen sprechen. Sie werden in die Community aufgenommen, und zusammen sind wir stark.“ Im Grunde funktioniert der Catcalls-Kreis damit wie eine Selbsthilfegruppe. „Mir hat das eine mega Entlastung gegeben“, bekräfigt die 30-jährige Cindy.

Seit vergangenen Juni sind die Engagierten auf den Straßen Gifhorns und Wolfsburgs unterwegs, die Posts ihrer Follower führten sie und ihre deckende Crayola-Kreide (Cindy lacht: „Das ist die Luxus-Kreide.“) auch schon nach Kästorf und Meine. Am besten einmal pro Woche versuchen sie zu kreiden. Im Winter hat‘s etwas nachgelassen – nicht, weil die Bereitschaft fehlt, sondern weil die Witterung das Kreiden nicht zulässt. Zudem wird im Sommer mehr belästigt.

„Es ist ein Problem für die ganze Gesellschaft“, holt Cindy aus. Das hat auch was mit dem rechtlichen Rahmen zu tun. Viele Aktivistinnen schauen da sehnsüchtig in andere europäische Länder wie Belgien, Frankreich und die Niederlande. Dort steht Catcalling nämlich unter Strafe. „Ich glaube, Deutschland hängt bei vielen Dingen hinterher – wie bei der Digitalisierung und der Modernisierung“, so Cindy. Und das Problem seien auch, finden die beiden, und man sieht ihnen an, dass sie das eigentlich gar nicht sagen wollen, die alten, weißen Männer. „Sie sind Teil des Problems. Ich denke, dass viele Männer und gerade ältere Personen nicht wissen, dass das Problem so groß ist.“

„Ich glaube, es macht allen Mut, wenn andere Betroffene über ihre Erfahrungen sprechen. Zusammen sind wir stark“, meint Cindy Hellmann, Aktivistin von Catcalls of Wolfsburg & Gifhorn.

Foto: Çağla Canıdar

Saskia berichtet von einer Freundin, die von einem Essenslieferanten belästigt wurde – der wollte erst in die Wohnung rein und behelligte sie später mit ungewünschten Anrufen. Ihre Anzeige führte nicht weit. „Da körperlich nichts passiert war, hat das Gericht den Vorfall abgetan und erklärt, sie solle sich doch geehrt fühlen, dass er sie als hübsche Frau angesehen hat“, meint Saskia. Für sie und Cindy ein politisches Versagen.

Irgendwo ziehen aber auch die Anti-Catcall-Aktivistinnen eine Grenze. „Grundsätzlich immer, wenn uns etwas Straffälliges berichtet wird“, sagt Cindy. Geschichten, die mit häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch zu tun haben, werden nicht angekreidet. „Da verweisen wir an die Polizei und Hilfestellen – denn wir sind keine Therapeutinnen.“

Demnächst werden sie aber Referentinnen sein. Im Rahmen des Weltfrauentags – oder: Feministischen Kampftags – organisieren Cindy und Saskia zusammen mit dem Stadtjugendring Wolfsburg im Wolfsburger Haus der Jugend einen Workshop zum Thema Catcalling. „Es wäre ein Highlight, wenn wir zukünftig noch viel mehr mit der Polizei, den Stadtverwaltungen, politischen Initiativen und vor allem den Schulen kooperieren könnten“, bekräftigt Cindy.

Unterdessen werden die beiden aber einfach weiterkreiden. Bei der Aktion, die KURT für diesen Artikel begleitet, ist das Werk am Schillerplatz nach 20 Minuten fertiggestellt. Am Ende stehen die Aktivistinnen zusammen und gucken, ob sich auch ja kein Rechtschreibfehler eingeschlichen hat. Von hinten kommt ein älterer Mann dazu und fragt: „Na, ist Euch in der kurzen Kleidung gar nicht kalt?“

Was ist Catcalling eigentlich – und ist es strafbar?
Der Begriff Catcalling stammt aus dem Englischen, übersetzt heißt er „Katzenrufen“. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags fasste Catcalling 2020 so zusammen: „überwiegend Belästigungen im öffentlichen Raum durch sexuell konnotiertes Rufen, Reden, Pfeifen oder sonstige Laute, wobei das Verständnis des Begriffes im Einzelnen uneinheitlich ist.“

Große mediale Aufmerksamkeit kamen Catcalls 2014 entgegen, als Schauspielerin Shoshana Roberts und Regisseur Rob Bliss mit versteckter Kamera das Catcalling auf den Straßen New Yorks dokumentierten – inzwischen hat das Video alleine bei YouTube 52 Millionen Aufrufe.

Mittlerweile hat sich weltweit mit Chalkback („Zurückkreiden“) eine vor allem junge Protest-Bewegung gegründet, die mit dem Ankreiden von Belästigungen auf Catcalling aufmerksam machen möchte. Ihre zentrale Forderung: Catcalling soll strafbar sein. In Deutschland ist das nicht der Fall, mindestens eine Beleidigung muss vorliegen, damit die verbale Belästigung strafrechtlich relevant wird. Illegal ist Catcalling dagegen in mehreren europäischen Nachbarländern.

instagram.com/catcallsofwob_gf
tiktok.com/@catcallsofwob_gf


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