Musik

Noch immer ist die Gewalt der Anfangstage präsent: Wie damals in Brasilien ist der Synth-Pop des Weyhäusers Alan Draht düster

Matthias Bosenick Veröffentlicht am 16.05.2024
Noch immer ist die Gewalt der Anfangstage präsent: Wie damals in Brasilien ist der Synth-Pop des Weyhäusers Alan Draht düster

Nach rund 30 Jahren beleben sie das Projekt Hades wieder: Sandro Couto (links) und Alan Draht. Letztgenannter wohnt seit 2017 in Weyhausen und tritt dort am 15. Juni beim Regionalen Musikfest auf.

Foto: Privat

„Mir wurden auch Autos gestohlen und ich wurde mit einer Waffe bedroht“, erzählt Alan Draht vom schockierend gewaltvollen Leben in seiner Heimat São Paulo. Deshalb ist der 50-Jährige auch glücklich, dass ihm sein Arbeitgeber die Chance auf ein Leben in Sicherheit gab, das er nun mit Familie in Weyhausen verbringt. Von dort aus lässt er seine Lebenserfahrung in seine harte und dunkle Musik einfließen: Jüngst reaktivierte er sein EBM-Solo-Projekt Urban Citizen, und mit seinem besten Freund Sandro Couto, der nach wie vor in Brasilien lebt, arbeitet er aktuell an einem neuen Album der 1989 gegründeten Electro-Darkwave-Band Hades.

„Gewalt ist präsent“, sagt Sänger, Produzent und Keyboarder Alan. Entführungen, Raubüberfälle, Morde gehören in São Paulo zum Alltag, und diese Gewalt steckt auch in seinen Songs. „Wenn die Leute meine Musik hören, sagen sie: ‚Das ist aber dunkel und negativ‘“, erzählt er entspannt lächelnd und zuckt mit den Schultern: „Das ist das, was man erlebt – wie im Rap, ein Spiegel der Gesellschaft.“ Wenn der Alan über Gewalt schreibt, dann von einer anderen Ebene aus als Künstler, die sie nicht erlebt haben: „Nicht künstlich.“

Los ging alles mit der Band Hades, 1989 in einer Gemeinde in der Region São Paulo, einer Auto-Industrieregion. Damals spielte Alan unter dem Alias Alan C.P. noch E-Schlagzeug. Irgendwann kam Sandro Couto dazu und übernahm das Schlagzeug, damit Alan sich aufs Singen konzentrieren konnte. Das Mikro gab er für die folgenden zwei Veröffentlichungen kurzzeitig an Alexandre Pepeu ab, dem temporär Plinio Mattos folgte. Nachdem jener zugunsten seines Projektes Further Southern die Band verließ, stoppten Hades trotz erfolgreicher Sampler-Beiträge und Livegigs sowie gefeierter Tapes 1996 die Aktivitäten. Alan betrieb zwischen 1999 und 2006 das Solo-Projekt Urban Citizen, das er gegenwärtig entstaubt. 2016 tat er sich erneut mit Sandro Couto zusammen, um nun wieder an neuen Songs zu arbeiten.

Alles in schwarz – so hatte damals ein Musiker wie Alan Draht, der finsteren Synthie-Pop spielt, auszusehen.

Foto: Privat

„Anfangs war es sehr amateurhaft“, lacht Alan. Die erste Drummachine musste mit den Fingern gespielt werden, man konnte sie nicht programmieren, und seine Mitstreiter hatten Kinderkeyboards. Für brasilianische Verhältnisse war das die erschwinglichste Methode, überhaupt elektronische Musik zu produzieren. „Das war unser Unique Selling Point, unser Charme“, sagt Alan. Da sie auch die Keyboards nicht programmieren konnten, mussten sie live alles spielen: „Das war lustig, wir mussten echt üben im Proberaum“, erinnert er sich.

Weil sie sich einen teuren Sampler nicht leisten konnten, kam Sandro auf die Idee, stattdessen einfach Sounds aus einem Videospiel live in die Songs einzubauen. Später, dann mit besserem Equipment und Musiktheorie im Gepäck, produzierte Alan in der Besetzung mit Sandro 1994 die erste Hades-Demo.

Alan verabschiedete sich von Hades, um zu studieren und eine Familie zu gründen. Bald schon rief er sein EBM-Projekt Urban Citizen ins Leben. „Ich wollte mehr Freiheit haben“, mit neuer, kraftvollerer Musikrichtung und komplett programmiert. „Das war eine One-Man-Band. Ich konnte mich auf meine Stimme fokussieren“, erzählt er. So absolvierte er auch Auftritte allein: „Man muss wirklich Mut haben. Jeder guckt auf Dich, keine Chance für Fehler – das war eine interessante Erfahrung.“ Die lebte er bis 2005 aus und verfiel dann zugunsten von Familie und Arbeit in eine zehnjährige Pause.

2016 stellten Sandro und Alan, der damals noch in Brasilien lebte, staunend fest, dass ihre alten Hades-Demos im Internet verkauft wurden, bisweilen „für exorbitante Preise“. Eine Plattenfirma aus Belgien nahm Kontakt zu ihnen auf wegen eines Beitrags für eine Compilation. „Also haben wir entschieden: Lass uns mal wieder etwas machen“, berichtet Alan. Gleich bei der ersten Session entstand der Song „Moonquest“. „Wir haben uns getroffen, haben die Synthesizer mitgebracht, haben in zwei Stunden den Song fertiggemacht und festgestellt: Da ist noch Chemie, und haben weitergemacht.“

Sie spielten einige alte Lieder mit neuer Technik ein und produzierten weitere Stücke, etwa für Tribute-Alben für New Order und Depeche Mode. Das funktioniert via Internet auch auf Distanz, und außerdem fliegt Alan jährlich nach Brasilien, auch um zu jammen. Auf diese Weise soll bis zum Sommer ein neues Album entstehen, das den Arbeitstitel „Real Meanings“ trägt. Mit Depeche Mode fiel auch schon der Name eines maßgeblichen Einflusses für Hades. Weitere waren damals Kraftwerk und Front 242. Alan zählt auch Camouflage, Clan Of Xymox oder Project Pitchfork. „Und wir hörten Bebon Beton damals“, eine Elektropop-Band aus Essen, also wie Hades aus einer Industrieregion. „Synthie-Pop, Future-Pop, düster, elektronisch – das war der Klang, den wir wollten“, sagt Alan. Minimalismus begeisterte die beiden. „Wir haben etwas erreicht, was nicht jede Band aus Brasilien erreicht – ich bin stolz auf das Wenige, das wir gemacht haben.“ Immerhin schafften es Hades und Urban Citizen in ein Buch, eine Enzyklopädie über elektronische Musik aus Brasilien.

Die Bühne ist für Alan Draht gewohntes Terrain. In den Anfangsjahren spielte er armutsbedingt auf Equipment, was keine Melodien speichern konnte.

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Alan hat überdies nicht nur Bands aus Deutschland als Einfluss, sondern nutzt auch Deutsch als wiederkehrende Gesangssprache: „Wenn man bei Volkswagen arbeitet, ist das unvermeidbar“, lächelt er. Nachdem er vor 27 Jahren in Brasilien eingestellt wurde, lernte er auch die Sprache des Mutterkonzerns und bringt sie nun in seine Musik ein. Ein Songtitel wie „Forschung und Entwicklung“ seines Projektes Urban Citizen ist dabei gar nicht direkt auf den Arbeitgeber zurückzuführen – es ging Alan um den Klang der Wörter, betont er, wendet aber grinsend ein: „Ich wurde inspiriert.“

Auf Portugiesisch zu singen käme nicht nur ihm nicht in den Sinn, das macht so gut wie keine Electro-Band aus Brasilien, da ist Englisch noch die am einfachsten zu lernende Fremdsprache. „Aber ich habe ein Lied auf Spanisch geschrieben für Urban Citizen“, ergänzt er. Sein ebenfalls deutscher Nachname ist übrigens gar nicht echt, seinen richtigen hält er aus seiner Kunst heraus. Inspirieren ließ es sich vom Song „Psycho Killer“ der Talking Heads und dessen Zeile „Don’t touch me, I’m a real live wire“ und fand über den Umweg Kevin Wire zu Alan Draht, damit wenigstens sein echter Vorname erhalten blieb.

Abenteuerlich ist auch die Wahl des Bandnamens Hades: Den Begriff für die Unterwelt, die Hölle aus der griechischen Mythologie, kannte Alan aus der Schule. Er stellte fest, dass das Wort in der Auslegung „philosophisch interessant“ ist und dass es auch in der Bibel vorkommt, und fand: „Es war cool, kurz, prägnant.“ Als dann in dem Film „Iron Eagle“ von der „Hades Bomb“ die Rede war, die „mit Feuer die Hölle auf die Erde bringt“, war für ihn alles klar: „Das ist cool – hier ist der Name.“ Und sein Umfeld stimmte umgehend zu.

Alan startet jetzt jedenfalls wieder richtig durch mit seiner Musik: Ein neues Album mit Hades, auch Urban Citizen pflegt er langsam weiter – aber nach seinem Hauptprojekt, „das hat Priorität“. Auch will er wieder live auftreten, so hat er Hades – aus logistischen Gründen leider ohne Sandro – für das Regionale Musikfest am 15. Juni in Wolfsburg angemeldet und überlegt: „Die offene Bühne in der Grille wäre interessant.“ Für Hades wäre dies sozusagen ein Elysion – eine Insel der Seligen.


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