Stolpersteine

Freude und Dankbarkeit – trotz ein paar Tränen: KURT begleitete die Nachfahren eines Opfers der Nationalsozialisten bei der Verlegung der ersten Stolpersteine in Gifhorn

Marieke Eichner Veröffentlicht am 17.10.2021
Freude und Dankbarkeit – trotz ein paar Tränen: KURT begleitete die Nachfahren eines Opfers der Nationalsozialisten bei der Verlegung der ersten Stolpersteine in Gifhorn

Alice‘ Nachkommen: Helen (von links) und Carolien van der Sluys, Hans Frankenberg, Annelies van der Sluys, Leanne Frankenberg, Jetske Nagtegaal, Bart Lelivelt, Peter Frankenberg, Katinka Lelivelt und Anneke Frankenberg.

Foto: Mel Rangel

Ihre Anzahl ist definitiv dreistellig: die Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn. An neun von ihnen erinnern nun Stolpersteine in unserer Stadt, darunter Alice Nathansohn. Ihre Nachfahren reisten extra zur Verlegung aus den Niederlanden an – und KURT hat sie an diesem besonderen Tag begleitet.

Der Tag beginnt mit einem Geschenk. „Wir haben viele Dokumente zu Hause gefunden“, sagt Hans Frankenberg, greift den vor ihm liegenden grauen Papierkarton und erhebt sich. „Gestern haben wir beschlossen: Die gehören hierher nach Gifhorn – nicht auf einen Dachboden.“

Es ist Mittwoch, der 6. Oktober 2021 und in Gifhorn werden die ersten Stolpersteine verlegt für Opfer des Nationalsozialismus aus und in unserer Stadt. Im Ratssaal sitzen Politikerinnen, Politiker, Historikerinnen, Historiker, Archivarinnen, Aktivisten, die Presse – und eine Familie. Neun Nachfahren der in Auschwitz ermordeten Gifhornerin Alice Nathansohn sind aus den Niederlanden angereist.

Und nun steht Alice‘ Urenkel Hans vor Bürgermeister Matthias Nerlich – der ringt nach Worten. „Das schließt definitiv eine Lücke im Stadtarchiv, das ist unbezahlbar – das können wir fast nicht annehmen.“ Er dankt für den großen Vertrauensbeweis.

Alice‘ Enkel, Urenkel und Ururenkel betonen unisono: Für sie ist es kein Tag der Versöhnung – denn niemals habe einer von ihnen Wut auf „die Deutschen“ verspürt. „Ich bewundere, wie mit der Kriegsvergangenheit in Deutschland umgegangen wird“, betont Hans‘ Bruder Peter Frankenberg. „Ich denke, es ist schwieriger, Kinder und Enkel von Tätern zu sein als in der Opferrolle, die man in Holland einnimmt.“

Auch der Bürgermeister überreicht den Angereisten je zwei Bücher über Gifhorn als Geschenke; die Stimmung hellt sich auf, es wird über die Anzahl von Flügeln an Windmühlen gefachsimpelt.

Die Stolperstein-Idee hatte Gunter Demnig 1992. Die ersten verlegte er noch nicht ganz legal. Heute sind es europaweit knapp 80.000.

Foto: Mel Rangel

Angekommen auf dem Schillerplatz, dem Ort der ersten Stolpersteinverlegung, stehen schon zwei Klarinettisten und eine Klarinettistin der Kreismusikschule Gifhorn zur musikalischen Begleitung bereit. Als Gunter Demnig, Initiator des Kunstprojekts, eintrifft, setzt Jubel ein. „Dieser erste kleine Meilenstein ist erst der Anfang“, betont Stolperstein-Pate Matthias Nerlich, während der Künstler unter den neugierigen Augen der Anwesenden den grauen Steinblock mit der gravierten Messingtafel auf der Oberseite ins Pflaster einarbeitet. „Damit hat es sich nicht erledigt. Wir stehen erst am Beginn der Auseinandersetzung mit unserer Stadtgeschichte.“ Der erste kleine Meilenstein auf diesem langen Weg ist Erich Lehmann gewidmet, der einst die Metzgerei seiner Familie übernehmen wollte – jedoch von Gifhorner Nazis bürokratisch enteignet, diskriminiert, zur Flucht gedrängt wurde.

An allen Stellen der neuen Stolpersteine stellen Patinnen oder Paten die Biografie des jeweiligen Menschen vor, an den erinnert wird. Weiter geht es vor dem Gebäude der Aller-Zeitung mit den Stolpersteinen für Hedwig und Willy Redlich. Der damalige Hauptschriftleiter der Zeitung – heute würde man Chefredakteur sagen – und seine Frau sahen im Suizid ihren einzigen Ausweg aus Entrechtung und Entmenschlichung durch die Nazis.

Zwei Klarinettisten und eine Klarinettistin der Kreismusikschule Gifhorn begleiteten die Verlegung der Stolpersteine.

Foto: Mel Rangel

In der Torstraße wird zunächst ein Stolperstein für Berta Müller verlegt. Die Mutter von Erich Lehmann wurde im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Währenddessen fällt Peter Frankenberg einem Passanten in die Arme. Er hat Tränen in den Augen.

„Peter hat mir den KURT-Artikel geschickt“, erzählt Martin Stadler, als sich beide aus der Umarmung lösen. „Da habe ich gemerkt: Ich möchte dabei sein. Wir sind alte Freunde.“ Der Süddeutsche stieg frühmorgens in den Zug, um seinen alten Freund in Gifhorn zu überraschen. Der ist sichtlich ergriffen: „Jetzt sind wir mehr als alte Freunde.“

Vor der Torstraße 12 wird nun Alice‘ Geschichte erzählt und Gunter Demnig macht sich ans Werk. „Für uns ist es sehr bewegend und etwas Besonderes hier zu sein“, ergreift Hans Frankenberg das Wort. „Mein Vater Werner hat oft erzählt, dass Alice und ihr Mann Martin ein Beispiel für ihn waren. Es ist wunderbar, dass Alice auch heute hier noch lebend ist. Vielen Dank an alle, die heute hier sind.“

„Es ist gut, dass das passiert“, fügt Alice‘ Ururenkelin Katinka Lelivelt später auf Englisch hinzu. „Es ist ein wichtiger Teil der Geschichte.“ Ihre Großtante Annelies van der Sluys, Enkelin von Alice, betonte schon im Gifhorner Ratssaal: „Es ist für mich sehr besonders, dass in Deutschland sowas passiert. Nirgends wurde darüber gesprochen, in unserer Familie war es tabu. Darum bin ich sehr gerührt – und froh.“

Die 88-Jährige stellt sich für ein Foto mit ihrer Familie hinter Alice‘ Stolperstein. Die Familie rückt zusammen und lächelt in die Kamera. „Ich wollte dabei sein, die Atmosphäre spüren und diesen Tag mit meiner Familie zusammen erleben“, berichtet Annelies van der Sluys.

Sie hofft, dass die Stolpersteine jungen Menschen etwas vermitteln: „Bleib bei Dir selbst. Laufe nichts hinterher, das nicht Dein Gefühl ist. Nie wieder.“ Es sei wichtig, dass die Öffentlichkeit, die Schulen aufklären. „Denn es passiert noch immer – schauen wir nach Afghanistan. Das gibt mir sehr große Sorgen.“

„Bleib bei Dir selbst. Laufe nichts hinterher, das nicht Dein Gefühl ist. Nie wieder. Denn es passiert noch immer. Das gibt mir sehr große Sorgen.“
Annelies van der Sluys, Enkelin von Alice Nathansohn aus Gifhorn

Foto: Mel Rangel

Vier weitere Stolpersteine werden an diesem Tag auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf verlegt. „Vor ein paar Monaten hatten wir noch die Befürchtung, wir könnten nicht mehr Auskunft geben als Name, Geburstag und ehemaliger Bewohner“, gibt Steffen Meyer, zuständig für historische Kommunikation bei der Dachstiftung Diakonie, zu. Doch heute referieren er und Vorstand Jens Rannenberg die Geschichten von Heinrich Alberts, Albrecht Muenk, Walter Hartung und Erich Willigeroth. Sie alle wurden nach Untersuchung in Kästorf in verschiedenen Krankenhäusern und Einrichtungen zwangssterilisiert.

Peter Frankenberg und seine Familie tragen ein Lächeln in ihren Gesichtern. „Danke, dass Sie das alles recherchiert haben“, wendet sich Alice‘ Urenkel an die Gifhorner Arbeitsgruppe Stolpersteine. „Danke, dass Sie uns gefunden haben.“

„Alles, was wir bisher rausgefunden haben“, haben Klaus Meister und seine Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe in einer 64-seitigen Broschüre zusammengefasst. „Für neun Opfer des Nationalsozialismus aus und in Gifhorn konnten wir Stolpersteine verlegen“, so Klaus Meister. „Wir wissen aber auch, dass die Zahl der Opfer definitiv dreistellig ist. Heißt: Es liegt noch sehr viel Arbeit vor uns.“ Wer Hinweise hat oder sich beteiligen möchte, darf sich gerne ans Kulturbüro der Gifhorner Stadtverwaltung wenden.


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