Stolpersteine

Die NS-Ideologie ist tödlicher Schwachsinn - Zehn weitere Stolpersteine erinnern auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf

Mia Anna Elisabeth Timmer Veröffentlicht am 23.11.2023
Die NS-Ideologie ist tödlicher Schwachsinn - Zehn weitere Stolpersteine erinnern auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf

Künstler Gunter Demnig kam bereits zum dritten Mal nach Gifhorn, um Stolpersteine auf dem Gelände der Kästorfer Diakonie zu verlegen.

Foto: Mel Rangel

Wir bestimmen, wie das 21. Jahrhundert verläuft: Mit Blick auf sich andeutende Dystopien scheinen Stolperstein-Verlegungen wie an diesem verregneten Oktobermorgen auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf zunehmend bedeutender. Seit 2021 gibt‘s die Mahnmale von Künstler Gunter Demnig auch in Gifhorn. Nicht nur die Tragweite der Vergangenheit lastet auf den Schultern aller Lebenden, zugleich die Entscheidung für oder gegen Maßnahmen, die uns ins Unglück oder zu Sternstunden führen. Eine dieser Entscheidungen: das Verlegen von Stolpersteinen, die Gräueltaten verurteilen.

Die Musik einer Ziehharmonika erklingt, gespielt von Nico Gutu, Regenschirme verschiedener Farben recken sich dunklen Wolken entgegen, Pfützen bilden sich zwischen den Steinen der Diakonischen Heime in Kästorf. Mitten in diesem grauen Arrangement: Gunter Demnig, der auf dem Boden knieend zehn neue Stolpersteine verlegt.

Paul Bartkowiak, Otto Beyer, Werner Bolz, Wilhelm Hassenpflug, Johannes Heuer, Paul Kulling, Arthur Lehmann, Hans Schneider, Albert Schüren, Alfried Semler – sie fielen dem NS-Regime zum Opfer, ausschlaggebend war das Urteil von Anstaltspsychiater Dr. Walter Gerson: Zwangsterilierung zum vermeintlichen Wohle der „Volksgemeinschaft“. Alle zehn Männer suchten die Arbeiterkolonie freiwillig auf, sie waren wohnungs- und arbeitslos.

Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger bewegt das Projekt Stolpersteine. Mit dem Niederlegen von Blumen zeigen sie ihre Anteilnahme.

Foto: Mel Rangel

„Wir wissen ziemlich genau, dass diese zehn Männer im Uhrenhaus gelebt haben“, erklärt Dr. Stefan Meyer, zuständig für die historische Kommunikation der Dachstiftung Diakonie und Stiftung Diakonie Kästorf. „Angeborener Schwachsinn“ hieß die Diagnose für einige, anderen attestierte der Anstaltspsychiater Gerson Schizophrenie. Ihre Leben verliefen nicht gleich, an ihre Schicksale sollen die Stolpersteine erinnern.

„Im Leben entwickelter Schwachsinn ist doch eine solche Ideologie. Und die ist tödlich – der sogenannte angeborene Schwachsinn war es nicht“, regt Hans-Peter Daub, Vorstand der Dachstiftung Diakonie, mit seiner Eröffnungsrede zum Nachdenken an. Währenddessen gibt Künstler Gunter Demnig behutsam die goldenen Pflastersteine aus Bronze in die zuvor dafür ausgehobenen Löcher. Die Stolpersteine passen zwischen den grauen Pflastersteinen, über die täglich zahlreiche Menschen ihren Weg gehen: Konfrontation mit den geschehenen Gräueltaten der Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren. „So finden diese zehn Männer wieder ein Gesicht – und so einen Platz in unserer Mitte“, erklärt Gunter Wachholz, 2. stellvertretender Bürgermeister der Stadt Gifhorn. „Wir dürfen niemanden vergessen.“

Nacheinander treten die Paten der Stolpersteine vor. Jede und jeder von ihnen entschied sich, Verantwortung zu übernehmen, für die Geschädigten des NS-Regimes einzutreten, nachdem es kaum jemand für diese zehn Männer tat. Insgesamt wird von 72 Geschädigten ausgegangen, die hier – vor unseren Haustüren – zu Opfern wurde. Es ist passiert, nun können wir nur noch erinnern, mahnen, aufarbeiten.

Wanderarbeiter Paul Bartkowiak kam in die Arbeiterkolonie Kästorf.Der Amtsarzt attestierte ihm „angeborenen Schwachsinn“.

Foto: Mel Rangel

Die Mahnmale sind verlegt, Lebensgeschichten der Geschädigten rekonstruiert und von den Paten der jeweiligen Stolpersteine vorgetragen. Es folgt die ökumenische Andacht des katholischen Theologen Martin Wrasmann und Moritz Junghaus, Pastor der evangelischen Kirchengemeinde Wesendorf. Appellierende Worte: Krieg, Frieden und eine vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte Partei in unseren Parlamenten, die Situation in Israel... „Wir verurteilen Gräueltaten, während anders wo das Elend Einzug hält.“ Anschließend: Segnung aller Anwesenden und ein gemeinsames Gebet.

Anneliese Menzel tritt vor. Die 86-Jährige erzählt, dass ihr Onkel den Nationalsozialisten zum Opfer fiel: „Sie, die Opfer, waren nicht Opfer eines Einzeltäters, sondern von gesetzlich abgesicherten Verbrechern.“ Anneliese Menzel entschied sich erst an diesem Morgen zu sprechen, vorzutreten, sich Raum für ihre Meinung zu nehmen. „Während der Opfer gedacht wird, wird das NS-Regime auch in Gifhorn weiterhin geehrt durch Straßennamen.“ Die Stadt täte nichts, meint Anneliese Menzel. Der mit dem Überprüfen aller Namensgeber von Gifhorner Straßen und Plätzen betraute Arbeitskreis stünde still. Die 86-Jährige schließt: „Das ist unerträglich.“

Die Schicksale sind nachlesbar in der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie in Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv und bei der Diakonie in Kästorf.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


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