Fairtrade-Town Gifhorn

Das Ziel des fairen Handels ist sich abzuschaffen: TransFair-Vorstand Claudia Brück spricht mit KURT über globale Gerechtigkeit

Bastian Till Nowak, Malte Schönfeld Veröffentlicht am 08.05.2021
Das Ziel des fairen Handels ist sich abzuschaffen: TransFair-Vorstand Claudia Brück spricht mit KURT über globale Gerechtigkeit

TransFair schafft Strukturen, um die Menschenrechte im globalen Süden zu schützen. Kaffeebäuerinnen wie Mak Azmi von der Kaffeekooperative Kopepi Ketiara profitieren davon.

Foto: Nathalie Bertrams/TransFair e.V.

Idealismus versus Realismus? Für Claudia Brück, seit 2015 im geschäftsführenden Vorstand von TransFair Deutschland und zuständig für Kommunikation und Politik, ist das kein Gegensatz. TransFair zertifiziert Lebensmittel, Kosmetikprodukte und Textilien, leitet in den Produzentenländern Organisationen und Arbeiterinnen und Arbeiter an und schlägt so die Brücke vom globalen Süden nach Deutschland. Im Zuge der Fairtrade-Zertifizierung unserer Stadt trafen sich KURT-Chefredakteur Bastian Till Nowak und KURT-Mitarbeiter Malte Schönfeld mit Claudia Brück in einer Videokonferenz und sprachen über kritischen Konsum, die Zusammenarbeit mit Starbucks und die Vorteile für Gifhorn, Fairtrade-Town zu werden.

Frau Brück, wenn wir im Supermarkt vor dem Schokoladenregal stehen, sehen wir vielleicht zwei fair gehandelte Tafeln, auf die rund 20 herkömmlich produzierte Tafeln kommen. Ist Ihnen da nicht manchmal zum Heulen zumute?

Ziemlich oft sogar. Die Frage ist: Sehe ich das Glas halbvoll oder halbleer? Vor zehn Jahren hatten wir in den Supermärkten keine einzige Schokolade mit dem Fairtrade-Siegel, man hätte dafür extra in einen der Weltläden gehen müssen. Jetzt haben wir sogar die Auswahl: Möchten wir eine Schokolade aus fair gehandeltem Kakao und Zucker, möchten wir eine Schokolade komplett ohne Zucker? Vor zehn Jahren lag der Marktanteil fairer Schokolade bei unter einem Prozent, jetzt sind wir bei zehn Prozent. Es geht also in die richtige Richtung.

Claudia Brück gehört zum Vorstand von TransFair Deutschland und kämpft für globale Gerechtigkeit.

Foto: Hanna Witte/TransFair e.V.

Ihr Ziel ist es, dass alle Waren fair gehandelt sind.

Genau. Das Ziel des fairen Handels ist es im Grunde, sich selbst abzuschaffen. Wir haben allerdings einen Nachteil: Die Rede ist von Preisen – von Mindestpreisen, die nicht verhandelbar sind.
Mit jedem Einkauf müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher am Regal eine Entscheidung treffen. Es gibt herkömmliche Ware und fair gehandelte Ware. Solange es eine deutlich billigere Option gibt, wird es auch immer Leute geben, die diese wählen. Dabei dürfte es – zum Beispiel bei Bananen – keine Alternative geben. Wenn der Gesetzgeber das ändert, wären wir schon bald bei 100 Prozent fairen Produkten.

Ist es den Käuferinnen und Käufern zu verübeln, dass sie auf die billigen Bananen setzen? Sind wir schlechte Menschen, wenn wir bei den billigen Discounter-Schuhen gefertigt aus Kinderarbeit zugreifen?

Das ist Unsinn! Ist es wirklich die Aufgabe von Verbraucherinnen und Verbrauchern, eine gerechtere Welt zu schaffen? Ich denke nicht. Wer mehr verdient, dem tut es natürlich weniger im Portemonnaie weh, fair gehandelte Produkte zu kaufen. Das Problem ist allerdings, dass sich wesentlich mehr Leute den besseren, fairen Kaffee leisten könnten, es aber nicht tun.

Das ist der kritische Konsum, den man sich vom Individuum wünscht. Wie kann man den fördern?

Es geht da ganz viel um Beteiligung. Wenn ich bei Freundinnen und Freunden sitze und sie mir einen Kaffee anbieten, frage ich nach, woher dieser Kaffee stammt und was da drin ist. Und wenn er nicht fair gehandelt ist, winke ich ab und sage: Nein, danke. Dasselbe gilt in der Öffentlichkeit. Ich will nicht täglich in fünf Supermärkte gehen, um alles Fairtrade zu kaufen. Ich spreche also die Verkäuferinnen und Verkäufer an, ob sie dieses und jenes Produkt nicht fair gehandelt ins Sortiment aufnehmen könnten. Der Druck der Verbraucher führt dazu, dass es mehr Spielräume für Fairtrade-Produkte gibt. Und Politikerinnen und Politiker sehen, dass dieser Druck wächst und müssen damit umgehen.

Die Fairtrade-Auswahl ist gigantisch: All diese Schokoladen gibt‘s auch im Gifhorner Weltladen im Cardenap.

Foto: Çağla Canıdar

Starbucks folgen 18 Millionen Follower bei Instagram, Ihrem Verein dagegen nur 30.000. Ihre Lobby scheint begrenzt. Wie wollen Sie sich da durchsetzen?

Der Vergleich hinkt. Unsere Lobby spiegelt sich nicht allein in unserem Instagram-Kanal wider. Wir haben allein in Deutschland 36 Mitgliedsorganisationen und tausende Unterstützerinnen und Unterstützer, die sich im Rahmen unserer Kampagnen für Fairtrade stark machen. Um den fairen Handel noch stärker in die digitale Öffentlichkeit zu bringen, setzen wir auf Influencer-Marketing. Wir haben etwa mit dem bekannten YouTuber Felix von der Laden zusammengearbeitet. Außerdem füllen wir die Kanäle mit guter Werbung, gutem Content und mit Influencern, die aufklären. Derzeit sind wir kurz vor dem Start eines neuen multimedialen Projekts: den Impact Diaries. Klar ist: Wir müssen einen Generationenwechsel schaffen. Dazu bilden wir aktuell 25 junge Menschen aus, die als „Fairactivists“ die junge Stimme im fairen Handel widerspiegeln sollen.

TransFair erntete Kritik dafür, dass Produkte von Einzelhändlern wie Lidl und Starbucks mit dem Fairtrade-Siegel ausgezeichnet wurden, während diese Firmen zeitgleich Lohndumping im eigenen Haus betrieben. Weniger wohlwollende Stimmen sprachen davon, dass sich TransFair damit in den Dienst von Greenwashing stellte. Sind Ihnen die Arbeitnehmerrechte in Deutschland also weniger wert als im globalen Süden?

Natürlich sind auch Arbeitnehmerrechte in Deutschland wichtig, aber nicht unsere Hauptaufgabe. Was viele Menschen bei der Debatte missverstehen ist, dass Fairtrade ein Produktsiegel, kein Unternehmenssiegel ist. Unsere Arbeit ist es, die Einzelhändler in anderen Punkten zu bearbeiten und auf Missstände aufmerksam zu machen. Ob Starbucks, Lidl oder ein Start-up, alle müssen die gleichen Regeln befolgen. Insofern war die Entscheidung damals richtig.

TransFair versucht, die Rechte von Produzentinnen und Produzenten im globalen Süden zu stärken. Es geht um die Bekämpfung von Ausbeutung, Kinderarbeit, die Mitsprache bei der Preisfestlegung und vieles mehr. Nehmen wir einen Kaffeebauern aus Peru – wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Ihrem Verein und dem Bauern aus? Wie kommt der Kontakt zustande?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins ist, dass wir hier einen Röster haben, der fragt: Woher kann ich den Kaffee fair beziehen? Dann fragen wir in den Ländern wie Peru nach, ob es Kapazitäten gibt und setzen uns mit den Produzentenorganisationen zusammen.

Von einem auf zehn Prozent: Der Marktanteil von fair gehandeltem Kaffee steigt von Jahr zu Jahr.

Foto: Ilkay Karakurt/TransFair e.V.

Möglichkeit zwei: Produzentennetzwerke kommen auf uns zu – in dem Fall die CLAC, die als Organisation für Kleinbauernkooperativen in Lateinamerika und die Karibik zuständig ist. CLAC hat in fast jedem lateinamerikanischen Land eine Vertretung, die die Organisationen vor Ort berät. Schließlich können wir nicht mit einem einzelnen Bauern handeln. Stattdessen handeln wir mit den Kooperativen, die im Übrigen alle eine demokratische Satzung haben müssen. Sie sind nach den Fairtrade-Standards zertifiziert und registriert.

Es gibt die Fairtrade-Prämie, also ein Geldbetrag, der zusätzlich zum Verkaufspreis gezahlt wird und von den Beteiligten vor Ort in Projekte ihrer Wahl investiert wird. Wie funktioniert das?

Alle Fairtrade-Produkte haben eine Prämie. Auf den Plantagen und den Kleinbauernkooperativen gibt es Prämienkomitees, die demokratisch gewählt werden. Das sind nicht nur Bäuerinnen und Bauern, sondern auch Verpackerinnen und Verpacker, Pflückerinnen und Pflücker. Es gibt eine Handreichung, wie mit der Prämie verfahren wird. Wichtig ist, dass die Prämien langfristig eingesetzt werden, etwa für Bildung. Dem Antrag, für was Geld ausgegeben wird, wird in einer Generalversammlung zugestimmt. Das klappte sehr gut – bis die Corona-Pandemie ausgebrochen ist. Seitdem haben wir eine flexiblere Nutzung erlaubt, um schneller Direktauszahlungen tätigen zu können und um entstandene Zusatzkosten etwa für Schutzmaterialien wie Masken und Desinfektionsmittel oder Lohneinbußen kurzfristig aufzufangen.

TransFair geht es auch darum, Frauenrechte zu stärken. Vor wenigen Wochen haben wir den Weltfrauentag gefeiert, medial tauchte zunehmend auch der Begriff „feministischer Kampftag“ auf. Welcher Begriff ist Ihnen lieber, Frau Brück?

Also... (überlegt lange), im Fairtrade-System gibt es keinen Kampftag. Wir bilden die Frauen bei uns zu Gender-Champions aus. Oft sind Frauen weder im Besitz eigener Anbauflächen noch sind sie Teil einer Kooperative. Das wollen wir ändern. Dafür haben wir Quoten eingeführt, so dass in jedem Vorstand Frauen vertreten sein müssen. Wir haben Projekte wie „Women in Coffee“, das eine Plattform für Produzentinnen und Händlerinnen schaffen soll, und die „Women‘s School of Leadership“, um Management-Skills zu fördern.

Aber auch wir im globalen Norden müssen uns an die eigene Nase fassen, um Gleichheit zu schaffen. In den Warenhäusern und Unternehmen in Deutschland stehen fast ausschließlich Männer an der Spitze; wir bei TransFair haben mit Dieter Overath ebenfalls einen Mann als Vorsitzenden. Hier müssen wir diverser werden. Geschlechtergerechtigkeit ist nicht ein Kampftag, sondern ein beharrlicher Kampf über 365 Tage im Jahr hinweg.

In der vergangenen KURT-Ausgabe haben wir in einem Interview mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil über das Lieferkettengesetz gesprochen. Dieses soll vornehmlich große Unternehmen in die Verantwortung nehmen, wenn in der Zuliefererkette gegen die Menschenrechte verstoßen wird. Kritiker sagen, der Gesetzesentwurf sei verwässert und ein zahnloser Tiger, während Herr Heil von einem „historischen Durchbruch“ spricht. Auf welcher Seite stehen Sie?

Es ist ein historischer Durchbruch, weil es so ein Gesetz vorher noch nicht gab, ja. Aber wir müssen sehr stark darauf achten, dass es kein zahnloser Tiger wird. Im derzeitigen Gesetzesentwurf, der dem Bundestag vorgelegt wird, sind viele der zunächst angedachten Strafen gestrichen worden. Da muss unbedingt nachgebessert werden!

Das Gesetz sagt beispielsweise nichts dazu, wie die Produzentinnen und Produzenten am Anfang entlohnt werden. Dabei ist ein existenzsicherndes Einkommen ein Menschenrecht.
Ehe existenzsichernde Einkommen über solch ein Gesetz abgedeckt werden, könnte man als ersten Schritt die Kaffeesteuer für fair gehandelten Kaffee abschaffen. Das wäre ein Quick-Win, und fair gehandelter Kaffee könnte ganz schnell einen Marktanteil von 50 Prozent erreichen.

Gifhorn möchte sich in diesem Jahr das Siegel Fairtrade-Town verdienen. Was für Vorteile gibt es für eine Kleinstadt, wenn sie das Siegel trägt?

Es ist möglich, das Siegel als Stadtmarketing einzusetzen. Es gibt Chancen, wie man Wege im Beschaffungswesen neu definieren kann. Es gibt Chancen, mit neuen Verbündeten und Stakeholdern Bündnisse zu schließen. Der faire Handel ist 50 Jahre alt, und es ist an der Zeit, neue Ideen zu entwickeln.

Unsere beschauliche Mühlenstadt als Förderer des fairen Handels: Ist das die berühmte Revolution von unten oder reine Sisyphos-Arbeit?

Für mich bedeutet das: Den Gedanken auf die Bühne gebracht. Erst regional und kommunal bekommt der faire Handel seine Strahlkraft. Gifhorn ist dann – wie mehr als 700 weitere Städte auch – ein Punkt, der Deutschland zum Leuchten bringt. Und unser Ziel muss es sein, auch in Europa zu strahlen.


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