KURT vor Ort
Von diesen Profis kann man einiges lernen – KURT-Redakteur Malte Schönfeld hat zum "Schichtwechsel" in der Lebenshilfe Gifhorn angepackt
Malte Schönfeld Veröffentlicht am 11.12.2023Verschwitzte Mauken in den Sicherheitsschuhen, leicht schlaffe Arme, noch immer der einzigartige Duft von Spülmittel in der Nase – das sind die Eindrücke von KURT-Redakteur Malte Schönfeld nach seinem langen Arbeitstag in der Lebenshilfe Gifhorn. Die hat nämlich für den Oktober zu einem besonderen Aktionstag aufgerufen: Beim „Schichtwechsel“ bietet sie an, Interessierte in ein typisches Arbeitsumfeld der Lebenshilfe zu integrieren, um Verständnis für die Arbeitswelt von Menschen mit Beeinträchtigungen zu schaffen und Vorurteile abzubauen. Für Malte ging es nach einer eindrücklichen Führung über das große Gelände erst in die wuselige Holzverarbeitung und später in die schaumgefüllte Autowaschhalle.
Fünf Minuten vor der Zeit ist des Deutschen Pünktlichkeit – sagt man ja so, und ich schließe mein Fahrrad vor dem Haupteingang der Lebenshilfe im Heidland 19 an. Und doch sieht es ganz danach aus, als wäre ich der letzte. Alle Leistungsberechtigten scheinen schon an ihrem Arbeitsplatz zu sein. Das nenne ich mal mustergültige Einstellung zur Arbeit, denke ich mir und trete durch den Haupteingang, wo ich schon von Nadine Kruck mit einem herzlichen Handschlag begrüßt werde.
Nadine Kruck ist Abteilungsleiterin für den Qualifizierungs- und Vermittlungsdienst und heute meine Wegweiserin und vertrauensvolle Managerin. Einige Tage zuvor sprachen wir am Telefon kurz über mögliche Einsatzorte für mich, ich bekäme freie Wahl, versprach sie. Holz und Saubermachen, erwiderte ich, das wäre was Tolles, und genau in diesen beiden Bereichen hat sie mir nun zwei Plätzchen freigehalten.
Es ist 8 Uhr und die ersten Leistungsberechtigten schieben schon eine surrende Bodenreinigungsmaschine über den Flur. „Ja, es wird jeden Tag gereinigt“, lächelt Nadine Kruck und führt mich – nachdem ich mir passende Sicherheitsschuhe angezogen habe – durch die verschachtelten Gebäude. Hier links, da rechts, noch eine Abbiegung, Bilderrahmen an den Wänden, schwere Türen, überall Leute, die freundlich grüßen.
Großraumküche, Garten- und Landschaftsbau, Montage-Werkstätten für Luftfedern und Fensterheberschalter, die für Kunden wie Automobilhersteller Volkswagen oder Mercedes gefertigt werden – in der Lebenshilfe ist richtig was los. Feste Arbeitsplätze, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Platz, angenehm ohne Anzug und Krawatte, doch da, wo’s nötig ist, in passender Uniform. In der Wäscherei ist es so sauberstrahlend, man müsste fast eine Sonnenbrille aufsetzen. Riesige Industriewaschmaschinen rotieren. „Besonders beliebt bei unseren Autisten“, erklärt Nadine Kruck. Und ja, optisch und akustisch ist der gleichmäßige Schleudergang ungemein meditativ.
Doch ich bin ja nicht hier, um mein friedvolles Zen in einer Art Buddhismus-Kloster-Aussteiger-Urlaub zu finden. Zum Anpacken bin ich hier, weshalb mich Nadine Kruck nun in die vertrauensvolle Obhut von Maik Piepenburg gibt. Maik ist der Gruppenleiter der Holzverarbeitung, seit mehr als 20 Jahren dabei und bevorzugt schnelle, klare Anweisungen: „Das sind Patrick und Matthias, genannt Matze, die zeigen Dir, wie alles geht. Brauchst Du noch Handschuhe?“ Ja, brauche ich, und nachdem ich beidhändig in das frische Paar reingeschlüpft bin, geht es los.
Unsere Aufgabe ist es, Bretter zuzuschneiden, um Transport-Kisten zu bauen – die Kunden sind Jägermeister, Butting oder Continental Teves. Wir hieven sie draußen von einem hohen Stapel auf eine Karre, es tröpfelt ein wenig, doch keiner murrt. In der Werkstatt stellen wir sie dann mit allen verfügbaren Händen auf die Säge, vier im Paket, manchmal fünf. Das ist dann aber schon echt aufwendig. Wer möchte, kann Ohrenschützer tragen, doch nicht alle Leistungsberechtigten mögen das taub-isolierende Gefühl, wie mir berichtet wird. Patrick ist für das Sägen zuständig, Matze und ich tragen die bestimmt drei Meter langen Bretter zur Seite. Als das Sägeblatt stumpf wird, folge ich Patrick zu den neuen, die an einer Werkbank aufgereiht sind. Sicherlich sechs, sieben verschiedene Sägeblätter, alle anscheinend für unterschiedliche Zwecke – da muss man erst mal den Überblick behalten.
Zurück an der Säge versuche ich mich in den Takt der beiden einzuweben, merke aber schnell, dass ich auch für kleine Störungen im Ablauf sorge. Patrick und Matthias arbeiten wie ein Uhrwerk, ihre Handgriffe sitzen. Präzision ist das Stichwort. Einmal fallen mir drei Bretter runter, schnell hilft mir Patrick. Ich merke: Hier sind sie die Experten.
Doch ich bin ja nicht nur für die Holzverarbeitung eingeplant. Kurz helfe ich in der Zwiebelschälerei aus. Gegen 11 Uhr holt mich dann Nadine Kruck wieder ab und erklärt mir auf dem Weg ins Heidland 35, dass ich gleich auf Thomas Jäckel treffen werde. Der leitet nämlich seit einigen Jahren den zweiten Standort, eine Straße weiter.
In der Montage werden ESC-Steuergeräte für VW zusammengesetzt, alle Arbeitsschritte sind smart aufeinander abgestimmt, dasselbe gilt für die Produktionsstraßen. Teilweise sind für die Arbeitsplätze die Maschinen speziell intern gebaut worden – „ergonomisch und prozessorientiert“, wie Thomas Jäckel mir stolz beim Mittagessen in der angeschlossenen Kantine berichtet.
Auch spannend finde ich die hausinterne Kommunikation, die über Piktogramme und eingängige Spitznamen funktioniert. So wie in jedem Büro, in jedem OP-Saal und auf jeder Baustelle haben auch die Arbeitsbereiche der Lebenshilfe funktionale Soziolekte ausgebildet, wird mir bewusst.
Auf dem Gelände findet sich neben der LKW-Logistik auch noch die Autowaschhalle. Hier gehorcht man dem Wort von Axel Clausen, der betriebsam zwischen Kundinnen und Kunden und seinem Team hin und her flitzt. Mein Kompagnon ist der Leistungsberechtigte Karsten, der gerade einen Familien-VW wäscht. Als erstes erwischt mich der saubere Duft in dieser Halle, muss ich gestehen. Meine Aufgabe: Immer darauf achten, dass Karsten auch ja auf der Höhe bleibt und keine Bereiche auslässt.
Im ersten Moment ist es ein wenig komisch, anderen Personen Anweisungen zu geben. Andererseits: Ich bin für einen bestimmten Zeitraum Teil dieses Teams und damit auch verantwortlich, dass die Autos der Kunden glänzen und blitzen. Also checke ich ab, ob Karsten gründlich arbeitet – oder vielleicht noch mal auf das Kennzeichen oder den Außenspiegel hingewiesen werden muss. Unterstützung erfahre ich dabei von Kerstin, die sonst wohl diese Aufgabe gewissenhaft übernimmt. Letztendlich kann sich das Ergebnis sehen lassen – saubere Arbeit, Karsten, im wahrsten Sinne des Wortes.
Nach sechs Stunden – Führungen, Arbeiten, Gesprächen – ist mein Tag in den Werkstätten beendet. Schichtwechsel vorbei. Mein Fazit: Diese Aktion ist ein voller Erfolg. Selten kann man wirklich hinter die Kulissen einer Produktion schauen, wie hier. Alle Menschen empfangen einen entweder mit wohlwollendem Interesse oder überschwänglicher Freude.
Es ist erstaunlich zu sehen, wie harmonisch die Atmosphäre ist, wie viel Lebenssinn im Arbeiten stecken kann. Und ich habe auch immer wieder erleben dürfen, wie stolz und glücklich die Leistungsberechtigten in den Momenten sind, wo sie jemandem wie mir etwas zeigen und beibringen können. Echte Maloche mit Anforderungen, Erwartungen und Stückzahl – und Menschen, die für ihr Leben gern arbeiten. Heute bin ich der Lehrling gewesen, sie waren die Chefs.