Krieg & Frieden

Tage der Angst – und nichts ist gut: Thomas Meister aus Gifhorn schildert, wie er seine Angehörigen an der ukrainischen Grenze abholte

Thomas Meister Veröffentlicht am 17.03.2022
Tage der Angst – und nichts ist gut: Thomas Meister aus Gifhorn schildert, wie er seine Angehörigen an der ukrainischen Grenze abholte

Thomas Meister, sein Vater Klaus und dessen Frau Svitlana aus Gifhorn holten ihre Familienangehörigen an der polnisch-ukrainischen Grenze ab.

Foto: Thomas Meister

Es waren Tage der Ungewissheit, Tage des Schreckens und der Angst. Und die Kinder haben alles hautnah miterlebt. Was macht das mit den Kindern? Was tut unsere Welt den Kindern an? Thomas Meister aus Gifhorn ist fassungslos. Gemeinsam mit seinem Vater Klaus und dessen Frau Svitlana holte er Svitlanas Tochter Slawa und deren Kinder an der polnisch-ukrainischen Grenze ab. Sie kommen aus Kiew – und verließen ihre Heimat wegen des abscheulichen Kriegs. Mann und Vater Oleg musste da bleiben. Hier der Bericht.

Es war der 27. Februar 2022. Während ich diese Zeilen schreibe, befinde ich mich in Polen in direkter Nähe der ukrainischen Grenze. Ich möchte einen kurzen und unverstellten Einblick in die Situation hier vor Ort geben – und wie es dazu gekommen ist.

Die Frau meines Vaters ist Ukrainerin. Ihre Tochter Slawa lebt mit ihrem Mann Oleg und zwei Kindern in Kiew. Trotz der von Putin (und nicht etwa dem russischen Volk!) aufgebauten Drohkulisse sind sie bis zur Nacht auf Donnerstag in Kiew geblieben. Auch wenn unsere Gedanken auch die Tage davor ständig darum kreisten, sie alle für eine Weile zu uns zu holen, bis sich die Lage beruhigt hat, so wollten sie selbstverständlich in ihrer Heimat bleiben. Das kann ich sehr gut verstehen. Ich weiß nicht, ob ich in einer ähnlichen Situation auch leichtfertig und frühzeitig meine Heimat – wenn auch nur übergangsweise – aufgeben würde. Krieg ist furchtbar.

In der besagten Nacht aber wurde die Gefahr auch in Kiew zu groß und sie sind geflüchtet in Richtung moldawische Grenze im Süden der Ukraine, da dies von Kiew aus der kürzeste Weg zu einem sicheren Land ist (Weißrussland zählt aus bekannten Gründen nicht dazu). Gekommen sind sie zunächst nur wenige Kilometer. Zu viele wollten gleichzeitig aus Kiew raus, sämtliche Straßen und Autobahnen waren verstopft. Es hat seit der Nacht bis in den späten Vormittag hinein gebraucht, bis sie tatsächlich aus Kiew herauskamen. Wohlgemerkt immer wieder mit Luftalarm und Raketen in Hörweite. Ich erinnere noch einmal daran, dass das auch Kinder hautnah mitbekommen, nicht nur deren Kinder – ALLE Kinder vor Ort. Was tut die Welt unseren Kindern eigentlich noch alles an?

Kurz vor der moldawischen Grenze im Laufe des Donnerstags erging die vollständige Mobilmachung in der Ukraine, was auch bedeutete, dass Reservisten zum Militär eingezogen werden. Oleg ist Reservist, da er im wehrdienstfähigen Alter ist. An der moldawischen Grenze konnten sie also das Land nicht verlassen, da für wehrdienstfähige Männer ein Ausreiseverbot verhängt wurde. Aus militärischer Sicht nachvollziehbar, aus familiärer Sicht eine Tragödie. Es hat sich am Ende herausgestellt, dass sie eine Stunde zu spät an der Grenze waren. Dies war kurz nach Mitternacht in der Nacht zu Freitag. An Schlaf war nicht zu denken.

Sie sind dann nach Lwiw (Lemberg) in den Westen der Ukraine, wo sie Freunde haben und für eine Pause erst mal unterkommen konnten. Am späten Freitagvormittag sind sie dort angekommen – da waren sie schon anderthalb Tage nonstop unterwegs.

Die Pause tat ihnen gut und sie sind sich dort klar darüber geworden, dass Slawa und die Kinder aus der Ukraine müssen. Wer die Medien verfolgt, weiß, dass im Laufe des Freitags die Gefechte immer schlimmer wurden und sich auf immer mehr Gebiete ausgeweitet haben. Es ist heroisch, was die ukrainische Armee zu leisten imstande ist und das imponiert mir gewaltig.

Sich gedulden an der Grenze: Der Gifhorner Thomas Meister ist nicht der einzige, der stundenlang auf die Angehörigen wartet.

Foto: Thomas Meister

Im laufenden Austausch mit Oleg, meinem Vater und mir fiel am Freitagnachmittag die Entscheidung, dass in jedem Fall Slawa und die Kinder zu uns nach Deutschland kommen sollen. Diese Entscheidung ist insofern schwerwiegend als somit klar ist, dass Oleg in der Ukraine zurückbleiben wird. Zu diesem Zeitpunkt war die Informationslage so, dass der Grenzübertritt rund 24 Stunden Wartezeit mit sich bringt. Sie haben noch am späten Freitagnachmittag alles vorbereitet und sind nach dieser kurzen Pause in Lwiw weiter zur Grenze. Sie haben bewusst einen kleinen Grenzübergang gewählt, in der Hoffnung, dass dieser nicht so drastisch überfüllt ist, wie die großen Grenzübergänge an den Autobahnen.

Wir rechneten also damit, dass sie am späten Samstagabend die Grenze passieren könnten. Es hat sich allerdings schnell in der Nacht von Freitag auf Samstag abgezeichnet, dass die Grenzübergänge schlicht überfordert mit dem Ansturm waren und auch die Software durch viele Serverausfälle immer wieder streikte. Man muss sich daher noch mal vor Augen halten, dass die Ukraine nunmehr ein Kriegsgebiet ist und auch die technische Infrastruktur logischerweise nicht uneingeschränkt stabil laufen kann.

Hinzu kommen die unsäglichen Formalitäten. So muss zum Beispiel jedes Auto, welches das Land verlässt, zwingend eine gültige Haftpflichtversicherung vorweisen. Blöd nur, wenn an den Grenzstationen, wo man diese noch nachträglich besorgen kann, das dafür benötigte Papier für die Plaketten ausgegangen ist. Das sind alles Gründe für die lange Prozedur an den Grenzübergängen, zumal auch scharf kontrolliert wird, dass nicht jemand doch im oder unter dem Auto versteckt ist.

Wir (mein Vater, seine Frau und ich) sind trotzdem am Samstag um 5 Uhr früh losgefahren. Mein Vater und ich konnten uns auf der Hinfahrt abwechseln, so dass wir schon gegen 17 Uhr an der polnisch-ukrainischen Grenze waren. Der Plan war, dass ich auf der Rückfahrt das Auto von Slawa fahre. Wir hatten die Hoffnung, dass der Druck an der Grenze immer größer wird und sich die Ausreise dann doch beschleunigt, zumal da auch die ersten Berichte über russische Einheiten in der Nähe von Lwiw kursierten. Diese waren am Ende aber falsch.

Sie stehen nun seit Freitag um 19.38 Uhr an. Zu diesem Zeitpunkt waren sie 9,8 Kilometer vom Grenzübergang entfernt. Bis Samstagmorgen um 7.30 Uhr haben sie einen Kilometer geschafft. Bis Samstagabend um 19.03 Uhr – also fast 24 Stunden später – haben sie zwei weitere Kilometer geschafft. Sie standen dann also nun bei 6,8 Kilometer Entfernung. Bis Sonntagmorgen sind sie auf 5,4 Kilometer ran. In anderthalb Tagen also eine Bewegung von rund 4,5 Kilometern.

Das liegt auch daran, dass der Straße zum Grenzübergang ein Kreisel vorangeht. Die Menschen kommen von Norden und Süden auf diesen Kreisel zu und fädeln sich dann nach Westen für die letzten drei Kilometer zum Grenzübergang ein. Dies dauert natürlich, bedeutet aber zugleich, dass die letzten drei Kilometer theoretisch doppelt so schnell gehen sollten wie zuvor.

Zum Glück werden die in der Autoschlange Wartenden von den Einheimischen im Dorf in der Nähe der Grenze gut versorgt mit warmem Essen, Decken und Hygieneartikeln.

Wir sind selbst in einer Pension in der Nähe der Grenze untergekommen. Heute am Sonntag haben wir uns vor Ort einen Überblick dort verschafft. Auf der polnischen Seite sind Massen an Menschen, die warten. Aus Polen, Deutschland, natürlich aus der Ukraine, aus Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Georgien, Spanien, Österreich. Und das sind nur die Kennzeichen, die ich gesehen habe. Viele schlafen dort in den Autos. Ich will nicht wissen, wie lange sie schon warten und noch warten müssen. Zwei polnische Hilfsorganisationen und die polnische Caritas haben mehrere Zelte als erste Ankunftsstation für die Flüchtenden und auch für die dort Wartenden aufgebaut. Unterstützt von der örtlichen Feuerwehr, die auch den Transfer vom Grenzübergang bis zu den Auffangstationen übernimmt. Das sieht alles sehr professionell organisiert aus – und das bei einem nur kleinen und sehr ländlichen Grenzübergang.

Und immer wieder kommen kleckerweise Flüchtende an. Zu Fuß und in Autos. Man sieht den Müttern mit den Kindern neben der Erschöpfung Erleichterung an, aber zugleich auch Fassungslosigkeit über die vergangenen Tage und vor allem über den Abschied der Männer. Wenn ich in den Autos Männer sehe, sind dies Senioren oder aber die Autos haben keine ukrainischen Kennzeichen. Sonst ausnahmslos Frauen. Entweder zusammen mit anderen Frauen oder Frauen mit ihren Kindern und Müttern. In Gesprächen vor Ort sagen diejenigen, die zu Fuß über die Grenze gekommen sind, dass sie lieber 5 Tage im Auto gewartet hätten als 5 Stunden in der Kälte und im Gedränge vor der Grenze. Für diejenigen, die nicht mit einem Auto flüchten können, scheint es deutlich unstrukturierter und härter vor dem Grenzübergang vonstatten zu gehen. Die beiden, mit denen wir geredet haben, sehen auch ziemlich fertig aus, wie alle, die uns zu Fuß entgegen kommen.

Auch uns wird eine unmenschliche Situation treffen. Der Zeitpunkt, wenn Slawa und ihre Kinder über die Grenze sind, bedeutet zugleich, dass sie sich gerade von ihrem Mann und Vater für eine ungewisse Zeit verabschiedet haben. Emotionales Gefühlschaos pur. Absolut bitter. Wir wissen nicht, wie es dann für Oleg weitergeht. Wir wissen nicht, wie der Krieg weitergeht, wie lange er dauert, welche Opfer er noch bringen wird und wie schmutzig der Krieg noch werden wird. Es ist einfach nur eine schreckliche Situation und eine schreckliche Zeit! Ich höre gerade von einem beschossenen Kinderkrankenhaus in Kiew, wo auch die Kinder von Slawa und Oleg schon mal gewesen sind. Wie pervers können Menschen eigentlich sein?

Es ist jetzt Sonntagabend, 27. Februar. Sie haben vorhin den Kreisel passiert und es sieht jetzt danach aus, dass sie heute in der Nacht zu Montag gegen 2 Uhr die Grenze passieren könnten. Wir werden da sein. Es geht dann direkt nach Deutschland zurück und wir werden vermutlich Montagabend wieder zu Hause sein.

Das bedeutet für die Kinder, dass sie fünf Tage nur unterwegs gewesen sein werden. Tage der Ungewissheit, Tage des Schreckens und der Angst, Anspannung bei allen Beteiligten. Was macht so etwas mit einem Kind? Ich weiß es nicht, aber mich lässt so etwas nicht kalt und es belastet mich.

Nachtrag: Slawa und die Kinder konnten wider Erwarten bereits gegen Mitternacht den Grenzübergang passieren. Eine surreale Situation. Zwischen dem Blaulicht der örtlichen Polizei, die den Bereich vor dem Grenzübergang auf polnischer Seite koordiniert, den Wartenden und den anderen Flüchtenden konnte ich in der Dunkelheit trotzdem ihr Auto ausfindig machen. Sie hatten die Grenze gerade hinter sich gelassen. Erst mal ging es auf einen kleinen Parkplatz. Kurz sammeln, in den Arm nehmen, sich irgendwie freuen und gleichzeitig ob der Situation dann doch auch wieder nicht.

Wir sind dann direkt nach Deutschland durchgefahren, nur unterbrochen durch Tankstopps und kurze Pausen gegen die Müdigkeit. Ablösen konnten wir uns ja nicht mehr. Ich bin froh, dass Slawa und die Kinder den Großteil der Nacht tatsächlich schlafen konnten. Ihre Erschöpfung war förmlich zu greifen. Und was Oleg erwartet, wissen wir nicht.


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