Raum für Notizen
Es bedarf Zeit und Mut, sich richtig kennenzulernen: Mia Anna Elisabeth Timmer berichtet in ihrer Kolumne von Hypersensibilität
Mia Anna Elisabeth Timmer Veröffentlicht am 08.06.2025
Einmal pro Monat schreibt Mia Anna Elisabeth Timmer ihre Kolumne „Raum für Notizen“ im KURT-Magazin. Diesmal hat sie sich das Thema Hypersensibilität ausgesucht.
Foto: KURT Media
Wieder knallt ein Objekt auf den Boden, wieder werfe ich ein weiteres hinterher, wieder kann mich niemand besänftigen. Mittlerweile kann ich meine Wut nicht mal genießen – denn sind wir mal ehrlich, manchmal ist dieser Rausch wohltuend. Tränen kullern meine Wangen hinab, wieder bin ich überfordert mit jeder Emotion. Wie ein Kind stürze ich zu Boden, jegliches Körpergefühl scheint verloren, meine Ohren dröhnen und meine Sicht ist zu verschwommen, um einzuordnen, wo ich bin. Absoluter Kontrollverlust.
Oft reicht als Trigger ein kleines Geräusch für meine hypersensiblen Ohren und Mount Mia (ich als Vulkan lol) bricht aus. „Nichts darf man hier“, pflegten meine jüngeren Brüder zu sagen, wenn ich am Küchentisch mal wieder lautstark empört Beschwerde bei unserer Mutter einreichte, dass alle zu geräuschintensiv essen würden. Dass mich die fehlende Gewalt über meine Emotionen oft unerträglich macht, ist mir bewusst – es braucht also Bewältigungsstrategien.
In Stresssituationen heißt‘s oft Runterschlucken – und dazu kommt auch noch, dass viele Menschen glauben, das von anderen einfordern zu dürfen. Abhaken und Weitermachen fällt manchen leicht. Aber: Emotionale Kompetenz ist keine Schwäche, sondern ein Entwicklungsschritt. Wer es schafft, Gefühle wahrzunehmen, einzuordnen und dann auch noch angemessen zu regulieren, der verarbeitet erst.
Hunger, Durst, Pipi – alles basic körperliche Bedürfnisse. Das zu erkennen und abzudecken scheint für die meisten keine große Herausforderung zu sein. Mit der Konfrontation der eigenen Gefühlswelt ist das irgendwie anders: Die einen verdrängen und unterdrücken, die anderen bestärken und verzweifeln. Ich glaube fast, die meisten unter uns – ob mental gesund oder nicht – haben nie gelernt, konstruktiv mit sich selbst umzugehen. Achtung: kein Vorwurf. Oft schenkt uns das Leben weder die Zeit noch die Kapazitäten, um jedes Gefühl durchleben zu dürfen. Klarkommen und Durchziehen verlangt das verständnislose Programm.
Jahre später übermannt die Vergangenheit zartbesaitete Seelen. Das innere Auge wird zur persönlichen Horrorvorstellung des grausam Erlebten und tief Vergrabenem. Psychotherapie, Psychiatertermine und Klinikaufenthalte retten dann nur noch davor, sich selbst zugrunde zu richten. Auch kacke, aber wichtig.
Wer sich entscheidet, in diesem unendlichen, unordentlichen Kosmos seiner eigenen Gefühle zu überleben, sollte sich selbst richtig kennenlernen. Das bedarf Zeit und Mut, ob sich‘s lohnt weiß ich selbst noch nicht. Scheint aber wie ein Anfang.