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Missbrauch per Mausklick: So werden Kinder manipuliert - Julia von Weiler spricht im Interview über sexualisierte Gewalt und Cyber-Grooming

Katharina Meier Veröffentlicht am 30.01.2021
Missbrauch per Mausklick: So werden Kinder manipuliert - Julia von Weiler spricht im Interview über sexualisierte Gewalt und Cyber-Grooming

Täter und Täterinnen machen sich die Anonymität im Internet zunutze. In sozialen Netzwerken und auch Online-Spielen mit Chat-Funktion schreiben sie Kinder und Jugendliche gezielt an.

Foto: Adobe Stock

Penisbilder, sexuell eindeutige Nachrichten und Aufforderungen zu realen Treffen: Mit all dem werden Kinder und Jugendliche im Internet konfrontiert. Julia von Weiler (51) macht sich für digitalen Kinderschutz stark – sie ist Geschäftsführerin des Vereins „Innocence in Danger“ („Unschuld in Gefahr“) mit Sitz in Berlin. KURT-Mitarbeiterin Katharina Meier fragte sie im Interview, wie Eltern ihre Kinder vor sexuellem Missbrauch im Internet schützen können – und was Politik und Unterhaltungsindustrie tun müssen.

Dass sie nicht in fremde Autos einsteigen sollen, wird Kindern schon von klein auf beigebracht. Warum fallen sie aber im Internet auf Sexualtäter herein?

In der digitalen Welt gibt es viel mehr mögliche Fallen als in der analogen – und diese sind oft schwerer zu erkennen. Digital kann ich meine Absichten besser tarnen und lerne in Spielen oder auf sozialen Medien schnell viel über die Kinder. Der Kriminologe Thomas-Rüdiger Gabriel geht davon aus, dass jedes Kind online mindestens einmal einem Sexualstraftäter begegnet. Das glaube ich auch – allerdings gilt das auch für die analoge Welt. Nicht bei jeder Begegnung kommt es zu Missbrauch.

In der analogen Welt kommen Täter und Täterinnen ja oft aus dem näheren Umfeld oder Bekanntenkreis, so dass diese den Kindern nicht fremd sind.

Richtig, 80 bis 90 Prozent aller Fälle finden im sozialen Nahfeld statt. Dazu gehört auch das Online-Nahfeld im Spiel oder auf TikTok. Gerade im Internet können sich Täter und Täterinnen das Vertrauen ihrer Opfer erschleichen. Selbst wir Erwachsenen verlieren schnell den Überblick über das Geschehen im Internet. Wenn wir es schon kaum hinkriegen, wie sollen es dann die Kinder hinbekommen? Die Kinder sind Erwachsenen kognitiv unterlegen und nehmen manche Situation aufgrund ihres geringeren Erfahrungsschatzes oft als weniger bedrohlich wahr – in der digitalen Welt erst recht. Wir wälzen viel zu viel Verantwortung auf die Kinder und Jugendlichen ab.

Julia von Weiler (51) macht sich für digitalen Kinderschutz stark – sie ist Geschäftsführerin des Vereins „Innocence in Danger“ („Unschuld in Gefahr“) mit Sitz in Berlin.

Foto: Privat

Welche Kinder sind besonders gefährdet, Opfer eines pädophilen Täters zu werden?

Je jünger und labiler, desto „geeigneter“ sind die Kinder für Täter und Täterinnen. Aber der größte Teil der Täter ist nicht pädophil. Knapp 60 Prozent sind sogenannte Ersatzhandlungstäter. Das bedeutet, sie fügen Kindern sexuelle Gewalt zu, um sich mächtig und dominant zu fühlen. Online gehört sexuelle Anzüglichkeit schnell zu einem eigenartig tolerierten Umgangston. Das macht es Tätern und Täterinnen natürlich einfacher. Grundsätzlich gehen alle Täter und Täterinnen immer strategisch und hoch manipulativ vor – analog und digital.

Wie schaffen es die Täter und Täterinnen, von ihren Opfern zu bekommen, was sie wollen?

Einige der Täter und Täterinnen kommen schon in den ersten Sätzen zur Sache: „Hallo“ – „Hallo“ – „Zieh Dich aus“. Das klappt bei vielen nicht, bei einigen aber eben doch. Andere hingegen erschleichen sich das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen über Wochen und Monate hinweg,…

...bis es zu einem Treffen kommt. Ist den Kindern und Jugendlichen vorher bewusst, dass sie sich einem sexuellen Vorhaben aussetzen?

Ja, ist es dem Täter oder der Täterin gelungen, das Kind zu einem analogen Treffen zu bewegen, kommt es in 100 Prozent der Fälle zur sexuellen Gewalt! Es ist aber auch möglich, dass diese Gewalt via Webcam ausgeübt wird. Das nennt sich Livestream-Missbrauch: Die Täter nötigen ihre Opfer dazu, beispielsweise sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen oder sich Gegenstände einzuführen. Laut einer Untersuchung der Internet Watch Foundation sind 98 Prozent der Opfer von Livestream-Missbrauch unter 13 Jahren. 96 Prozent der Kinder werden digital in ihrem Zuhause oder Kinderzimmer missbraucht.

Ist es nicht so, dass sich Jugendliche in den sozialen Medien teils sehr intim präsentieren? Das erinnert doch sehr an das genauso alte wie falsche „Sie hat es doch nicht anders gewollt...“

Ja, aber nicht nur. Auch in Online-Games treffen Täter und Opfer aufeinander. Die Kinder und Jugendlichen können dieses Problem aber nicht alleine lösen. Die Anbieter und die Spiele-Industrie müssen für besseren digitalen Kinder- und Jugendschutz viel mehr tun. Es kann nicht sein, dass alles auf den Rücken der Kinder ausgetragen wird. Die Chat-Funktion in einem Spiel ist ein riesiges Einfallstor für Täter. Dies müssen sich die Anbieter und auch die Eltern klarmachen.

Was genau sollte die Spiele-Industrie unternehmen?

Ich erwarte, dass die Spiele-Industrie diese Risiken nicht kleinredet, sondern ihnen aktiv begegnet. Dazu gehört auch, dass im Vorfeld die sichereren Varianten der Privatsphäre programmiert sind und man sich bewusst dagegen entscheiden muss. Wir fordern gemeinsam mit anderen Kinderschutzorganisationen, dass in jedem Spiel, das sich auch an Jüngere richtet, genügend professionelle Moderator/innen zur Verfügung stehen, um Kindern in Not zu helfen.

Und was sollte die Politik tun, um Cyber-Grooming zu bekämpfen?

Ich wünsche mir gesetzliche Kinder- und Jugendschutzstandards im Internet. Der Schutz vor sexuellem Missbrauch ist eine Daueraufgabe und muss nachhaltig viele Menschen erreichen. Digitale Medien haben die Dynamik sexueller Gewalt gegen Kinder dramatisch verschärft. Welche Gefahren das birgt, sollte Gesellschaft und Politik mittlerweile – auch aufgrund der Fälle, wie Lügde oder Bergisch-Gladbach – kapiert haben. Wir müssen Strategien entwickeln. Auch der Fall Münster hat bewiesen, dass wir viel besser darin werden müssen, Täter und Täterinnen zu erkennen, um eingreifen zu können.

Was genau ist denn in den Nachrichten zu lesen und auf den Bildern zu sehen, die die Opfer von den Tätern erhalten?

Das kommt auf die Persönlichkeit des Täters oder der Täterin an. Manche schmeicheln, umschreiben, manipulieren sehr geschickt ohne sofort „zur Sache zu kommen“, während andere direkt die berühmt-berüchtigten Penisbilder oder Dickpics versenden. Der Fantasie sexueller Fotos, Filme oder Textnachrichten sind keine Grenzen gesetzt.

Was lösen solche sexuellen Inhalte überhaupt bei den Kindern und Jugendlichen aus?

Wenn Kinder online auf sexuelle Inhalte stoßen, löst das viele Emotionen aus: Neugierde, Entsetzen, Verstörung und viele Fragezeichen im Kopf. In jedem Fall haben die Inhalte Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen. Den Täter/innen dient das Versenden sexualisierter Inhalte als Teil der Manipulation zur Ausübung von Dominanz und Macht und häufig als Erregung.

Oft werden auch die Kinder und Jugendlichen von den Tätern aufgefordert, ihnen intime Fotos zuzusenden. Was geschieht mit diesen Fotos, wenn die Täter sie erst mal haben?

Es gibt hier nicht die eine Wahrheit. Viele Täter/innen nutzen die Bilder als Druckmittel, um die Opfer zu weiteren sexuellen Handlungen zu bringen. Andere sammeln die Fotos oder Filme, masturbieren darauf oder tauschen sie mit anderen Täter/innen. Wir müssen begreifen, dass Täter geschickte Manipulatoren sind und ihre Überlegenheit gegenüber Kindern und Jugendlichen ausnutzen – immer!

Die Manipulation der Opfer spielt also in allen Fällen eine Rolle?

Richtig, dabei gehen Täter*-innen ganz individuell vor. Sie können ja im Vorfeld nicht wissen, wie ihr Opfer reagieren wird. Sie tun alles, um ans Ziel zu kommen.

Wie jung sind die Opfer?

Generell werden die Kinder, die das Internet nutzen, immer jünger. Dies ist vor allem auf Online-Games zurückzuführen, wo sie auch zu Opfern werden können. Mit zunehmendem Alter gewinnen viele an kognitiver Reife und können sich etwas besser wehren.

Also hat der Missbrauch irgendwann ganz automatisch ein Ende?

Sexueller Missbrauch verändert das Leben für immer. Das bedeutet, die Betroffenen leben mit dieser Erfahrung. Wurden Aufnahmen des Missbrauchs gemacht, verfolgen diese die Betroffenen natürlich auch im Erwachsenenalter. Sie müssen mit dem Wissen leben, dass diese Missbrauchsdarstellungen verbreitet werden, damit andere sich daran sexuell erregen – eine enorme Belastung!

Wie können sich Kinder und Jugendliche schützen?

Wenn wir alle ehrlich sind: indem sie nicht online gehen. Es ist zynisch, denn in Workshops für Kinder und Jugendliche müssen wir eigentlich vermitteln: „Du darfst niemandem trauen“ – keine schöne Haltung. Also versuchen wir mit ihnen gemeinsam zu überlegen, an wen sie sich in der Not wenden können. Beispielsweise gibt es Online-Anlaufstellen, wie www.save-me-online.de. Klar ist auch: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene an ihrer Seite, die hinsehen und handeln, wenn etwas im Argen liegt – Eltern, Großeltern oder Lehrkräfte.

Und was können Eltern sonst noch tun?

Eltern sollten zuverlässige und vertauenswürdige Ansprechparter für ihre Kinder sein. Sie sollten aber auch mit ihren Kindern besprechen, wer außer ihnen noch gute Ansprechpersonen sind, falls das Kind sich nicht traut, es den Eltern zu erzählen. Kinder sollten wissen, an wen sie sich wenden können, wenn ihnen etwas komisch oder bedrohlich vorkommt. Wichtig ist, dass sie mit diesem Gefühl nicht alleine bleiben. Das bedeutet, wir müssen uns auch dafür interessieren, was Kinder und Jugendliche online erleben, indem Eltern ihren Kindern am Computer auch mal über die Schulter gucken. Unter www.spieleratgeber-nrw.de erfahren wir, wie Online-Spiele funktionieren und welche Altersempfehlung ausgesprochen wird.

Ein weiterer Tipp von uns: Schauen Sie sich online sogenannte „Let’s plays“ an. In solchen Videos zeigen Gamer, wie sie ihre Spiele spielen. Wir erfahren dort eine Menge über die Darstellung und ob Gewalt, Sexualität oder ein rauer Umgangston bei den Spieler/innen untereinander vorkommen. Einige Minuten reichen meist aus, um sich vom Spiel ein Bild machen zu können.
Wichtig ist auch, gemeinsam mit Kindern Regeln für die Internetnutzung festzulegen.

In einem „Deutschlandfunk“-Interview sagten sie, dass in jeder Schulklasse mindestens zwei Kinder sitzen, die schon einmal sexuelle Gewalt erfahren haben.

Diese Aussage bezog sich aufs Dunkelfeld, ich gehe sogar von zwei bis vier Kindern pro Klasse aus. Laut Kriminalstatistik sind bis zu 16.000 Kinder und Jugendliche jährlich von analogem sexuellen Missbrauch betroffen. Nur etwa 1 Prozent wird Jugendamt oder Polizei überhaupt bekannt. Scham und Angst vor Drohungen der Täter sind die häufigsten Gründe, sich nicht mitzuteilen. Das gilt auch noch im Erwachsenenalter. Das Stigma „Opfer sexueller Gewalt“ ist enorm.

Teilen auch Sie solche Erfahrungen?

Nee, eigentlich nicht. Ich hatte eine „normal-bekloppte“ Kindheit in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. In der Rückschau stelle ich aber fest, dass dazu das Wissen gehörte, dass ein Mädchen in der Nachbarschaft von der Mutter schlimm misshandelt wurde. Auch sprachen im Dorf alle über die „eigenartige“ Beziehung eines Vaters zu seiner Tochter und es war total normal, auf Schützenfesten sexuell angemacht zu werden. Das Thema war also sehr wohl Thema – ohne Thema zu sein. Das ist in weiten Teilen der Gesellschaft auch heute noch so – wir scheuen uns, uns einzumischen. Betreten schweigendes Zuschauen allerdings hilft nur einer Person – dem Täter oder der Täterin. Und es schwächt die Opfer. Höchste Zeit also, offen darüber zu sprechen!

Beratung für Eltern und Kinder gibt‘s auch in Gifhorn:
Dialog e.V.
Kirchweg 7, Gifhorn
Tel. 05371-99129951
www.dialog-wolfsburg.de


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