Stolpersteine

Zwangssterilisiert auf Geheiß des Medizinalrats - Ein Stolperstein erinnert an den Kästorfer Walter Hartung

Steffen Meyer Veröffentlicht am 24.11.2021
Zwangssterilisiert auf Geheiß des Medizinalrats - Ein Stolperstein erinnert an den Kästorfer Walter Hartung

Direkt vorm Uhrenhaus – auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf – erinnert jetzt ein Stolperstein an Walter Hartung.

Foto: Mel Rangel

Die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn ist dreistellig – an neun von ihnen erinnern nun die ersten Stolpersteine in unserer Stadt. Die Biographien stellt KURT in einer neuen Serie vor. Diesmal geht es um Walter Hartung, der in den Kästorfer Anstalten lebte und im „Dritten Reich“ zwangssterilisiert wurde. Dr. Steffen Meyer, Historiker und Archivar der Dachstiftung Diakonie, recherchierte die Hintergründe und legt diese in einem Gastbeitrag vor.

Der am 17. Juni 1908 in Erfurt unehelich geborene Walter Hartung kam als Kind in ein Erziehungsheim, wann genau ist nicht bekannt. Laut eines Akteneintrags lebte er bis zu seinem 14. Lebensjahr im Knabenhof des Stephansstifts, einer Einrichtung der Diakonie mit Sitz in Hannover.

Für die Zeit danach ist ein weiterer Anstaltsaufenthalt belegt: Bis in das Jahr 1928 hinein lebte Walter Hartung in den Neinstedter Anstalten im Harz (heute Evangelische Stiftung Neinstedt). Nach seiner Entlassung war er auf verschiedenen Höfen als Landarbeiter beschäftigt, bis er am 29. November 1930 in die Arbeiterkolonie Kästorf kam. Im März 1931 verließ er die Kolonie wieder, war einige Tage bei einem Landwirt in Eutzen bei Wittingen beschäftigt und ging im Anschluss auf der Suche nach Arbeit auf Wanderschaft. Kurze Zeit später, am 4. April 1931, kehrte er in die Arbeiterkolonie Kästorf zurück.

In einem Brief aus dieser Zeit beschrieb Anstaltsvorsteher Pastor Martin Müller Walter Hartung als „leicht zu lenken, anhänglich, gutmütig, aber nicht sehr selbstständig“. Am 7. und 8. März 1934 fanden in den Kästorfer Anstalten psychiatrische Untersuchungen statt, an der mehr als 30 Bewohner teilnahmen. Am 8. März untersuchte Landesmedizinalrat Dr. Walter Gerson den damals 25-jährigen Walter Hartung. In seinem Gutachten stellte der Psychiater folgende Diagnose: „Angeborener Schwachsinn. Es handelt sich bei W. H. um einen schwachsinnigen Jugendlichen mit psychopathischen Zügen. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß seine Nachkommen an schweren geistigen Erbschäden leiden werden.“

Fünf Tage später stellte der gesetzlich bestellte Pfleger von Walter Hartung einen Antrag auf Unfruchtbarmachung beim Erbgesundheitsgericht Hildesheim. Auch Walter Hartung hat den Antrag unterschrieben. Den Beschluss zur Unfruchtbarmachung hat das Erbgesundheitsgericht am 14. August 1934 getroffen. Darin heißt es, dass Walter Hartung weder körperlich noch neurologisch krank sei, sich aber auf dem geistigen Niveau eines acht- bis zehnjährigen Knaben befinde. Nur wenige Tage später, am 25. August, kam Walter Hartung in das Allgemeine Krankenhaus Celle, wo er unfruchtbar gemacht wurde. Nach dem Krankenhausaufenthalt kehrte er in die Kästorfer Anstalten zurück, wo er in der Arbeiterkolonie lebte und unter anderem als Küchenkraft im Altenheim Hagenhof arbeitete.

Die Kriegszeit hat er in den Kästorfer Anstalten verbracht, ohne eingezogen zu werden. Nach einem Gesuch des Wehrmeldeamtes Gifhorn sandte Anstaltsvorsteher Pastor Martin Müller den Bereitstellungsschein am 20. Januar 1941 mit folgender Begründung zurück: „Hartung ist bereits über 10 Jahre Anstaltsinsasse und bedarf infolge seines hochgradigen Schwachsinns ständiger Anstaltsbetreuung. Er ist unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 gefallen. Die Akten dazu liegen bei dem Staatlichen Gesundheitsamt in Gifhorn.“

Im Januar 1946 bezichtigten andere Bewohner der Arbeiterkolonie Walter Hartung des Diebstahls. Tatsächlich fand man in mehreren Verstecken Diebesgut: Essen, Wäsche und Kerzen, was zu seiner Entlassung am 31. Januar 1946 führte. Walter Hartung ging daraufhin nach Erfurt, wo er als Untermieter bei seiner Mutter einzog, wie einem Dokument der polizeilichen Meldebehörde zu entnehmen ist. Im Juni 1947 reiste Hartung nach Bayern und wurde wegen unerlaubten Grenzübertritts von einem amerikanischen Schnellgericht zu einer vierwöchigen Haft verurteilt, die er im Strafgefängnis Stadelheim in München verbüßte.

Nach seiner Haft hielt er sich einige Tage im Durchgangslager Moschendorf für Heimatvertriebene auf, bevor er sich auf den Weg nach Erfurt machte, um sehr wahrscheinlich zu seiner Mutter zurückzukehren.

Walter Hartung hielt sich einige Tage in Dittelstedt bei Erfurt auf, begab sich dann aber wieder nach Kästorf, wo er am 22. Juli 1947 in der Arbeiterkolonie aufgenommen wurde. Hier lebte er bis zum 1. März 1973. An diesem Tag zog der mittlerweile 64-jährige Walter Hartung von der Kolonie in das Alten- und Pflegeheim Hagenhof um. Neun Monate später musste er in das Krankenhaus Wittingen eingeliefert werden, wo er am 19. Dezember 1973 starb. Zwei Tage später wurde Walter Hartung auf dem Waldfriedhof in Kästorf bestattet. Angehörige konnten nicht ermittelt werden.

Dieser Text stammt aus der Broschüre „Stolpersteine in Gifhorn“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv und in der Stadtbücherei.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro der Gifhorner Stadtverwaltung:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


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