Engagement
Wirklich alle Schulen haben dieselben Probleme: Gifhorns Kreisschülerratsvorsitzende Emma Lou Menges im KURT-Interview
Malte Schönfeld Veröffentlicht am 07.12.2024Die Schule als Heimstätte der Neugier und Bildung, aber auch als Ort verkrusteter Strukturen und überarbeiteter Lehrerinnen und Lehrer – das spürt Emma Lou Menges jeden Tag. Zusammen mit Eva Christmann und Adeline Kirschmann bildet sie den Vorstand des Kreisschülerrats, der im Namen aller Schülerinnen und Schüler im Landkreis Gifhorn auftritt. Im großen KURT-Interview spricht die 16-Jährige mit Redaktionsleiter Malte Schönfeld über die Digitalisierung, Unbehagen im Schwimmunterricht, psychischen Druck, die Integration von Geflüchteten und neue Männlichkeitsbilder.
Emma Lou, Du sprichst für fast 20.000 Schülerinnen und Schüler im Kreis Gifhorn. Unmöglich, alle ihrer Anliegen und Wünsche zu beachten. Wie bildet Ihr im Kreisschülerrat Eure Positionen aus? Wie sind da Eure Verfahren?
Alles startet bei uns mit den Klassensprechern, die sich auf den SV-Sitzungen versammeln und mit den Schülersprechern sprechen. Diese Schülersprecher, so wie ich auch, versammeln sich dann im Kreisschülerrat als gewählte Vertreter und repräsentieren ihre Mitschüler. Einmal pro Monat tagen wir in Gifhorn, um Meinungsbilder einzuholen und offene Diskussionsrunden zu führen. Man kann uns ein Anliegen direkt bei Instagram schreiben. Bei den regelmäßigen Treffen stellen wir jedenfalls fest: Wirklich alle Schulen haben dieselben Probleme. Und da sollten die Alarmglocken schrillen.
Bevor wir inhaltlich werden: Ihr seid also nur so stark wie das einzelne gelebte Engagement an den Schulen.
Auf jeden Fall. Zum Beispiel freuen wir uns sehr, dass wir neben unserem Vertreter für die allgemeinbildenden Schulen nach ungefähr zehn Jahren endlich wieder mit einer Stimme der Berufsbildenden Schulen im Schulausschuss vertreten sind. Lange Zeit haben die Berufsbildenden Schulen das wegen fehlender Zeit und Kapazitäten nicht so engagiert verfolgt. Dabei sind wir auch auf die Lehrkräfte und Schulleitungen angewiesen, die den Kreisschülerrat in ihren Schulen bekannt machen.
Im Landkreis Gifhorn herrscht – wie in fast allen Regionen Deutschlands – Lehrermangel. Ich habe mit einer Schülerin der Oberstufe gesprochen, die sich regelmäßig über 12 Schulstunden Ausfall pro Woche beklagt. Befürchtet Ihr Schülerinnen und Schüler, immer schlechter ausgebildet zu werden?
Ehrlich gesagt: Dieses Gefühl ist schon hin und wieder da.
Politisch ist ein umfassendes Konzept nötig – darauf weisen wir schon seit Jahren hin. Vor allem wir Schülerinnen und Schüler bemühen uns zusammen mit Unterstützung von den Schulen wirklich, Projekte auf die Beine zu stellen. Zum Beispiel die Lernwerkstätte oder Lerngruppen, in denen wir uns untereinander helfen, um Lernstoff nachzuholen. Aber gerade die Unterstufe braucht Unterstützung bei der Organisation, um da weiterzukommen und später ansatzweise in der Oberstufe bestehen zu können – ohne haufenweise Wissenslücken. Trotzdem kann die Oberstufe jetzt nicht zweite Lehrkraft für die Unterstufe spielen.
In meinem Fall kann ich sagen: Die Lehrer sind bemüht. Ihnen kann man wirklich nichts vorwerfen. Sie sind bloß am Limit. Teilweise versuchen sie noch Lücken aus der Corona-Zeit zu füllen. Nur der Punkt ist: Sie können das nicht alleine stemmen. Und so werden die Defizite innerhalb der Klassen immer größer.
Wenn da politisch nichts geändert wird, werden wir auf jeden Fall eine Wissens- und Bildungslücke haben.
Sind Quereinsteiger für Euch der Masterplan oder eher Notnagel?
Aktuell sind Quereinsteiger zumindest die Lösung. Weil niemand kann sich Lehrer aus dem Ärmel zaubern. Quereinsteiger haben auch viele Vorteile. Sie bringen neue Perspektiven ein, frische Impulse bei innovativen Lernmethoden. Sie bringen häufig sehr viel Motivation und Engagement mit. Viele haben einfach Bock, uns zu helfen.
Lass uns über die Digitalisierung sprechen. Statt grüner Tafel und Tipp-Ex sind nun Whiteboards und Tablets in den Klassenräumen. Gelingt die Umstellung? Und sind Eure Lehrerinnen und Lehrer ausreichend geschult?
Überwiegend kann ich da positive Rückmeldung geben. Da haben wir auch wirklich sehr viel Unterstützung vom Landkreis bekommen. Nur ist auch klar: Inwiefern die Umstellung gelingt, hängt von den Lehrkräften ab. Es geht nicht nur darum, wie gut sie ausgebildet sind, sondern ein Stück weit auch darum, wie willig sie sind, sich dieser Zeit zu stellen und wirklich der Digitalisierung anzunehmen. Skepsis schön und gut, doch wir Schüler sehen die Digitalisierung als Bereicherung an.
Was allerdings ein ganz großes Problem ist, was wir so gut wie an jeder einzelnen Schule im Landkreis sehen, ist der Mangel an IT-Experten. Es ist teilweise so, dass wir Schulen haben mit 1000 Schülern, wo diese ganzen IT-Probleme nebenbei von einer einzigen Lehrkraft gestemmt werden. Die bekommen dafür keine Stunden angerechnet, die werden dafür nicht extra bezahlt, sondern die machen das ehrenamtlich. Und wenn flächendeckend iPads eingeführt werden, kannst Du Dir vorstellen, wie viele Probleme auftreten. Deswegen wünschen wir uns in dem Bereich noch mehr Investitionen und pädagogische Weiterbildungen. Auch damit wir nicht den Lehrkräften die Technik erklären müssen.
Von Schule zu Schule ist es ganz unterschiedlich, inwiefern die Nutzung von Apps und Tools zur Recherche erlaubt ist. In Ländern wie Italien, Frankreich und den Niederlanden ist beispielsweise das Smartphone komplett aus dem Schulalltag verbannt. Ihr seid dagegen – weshalb?
Bei Social Media muss definitiv noch mehr Aufklärung vorgenommen werden, da stimmen wir zu. Aber wir sehen mittlerweile die Notwendigkeit der Handynutzung an Schulen. Auch das ist Teil der Digitalisierung. Abgesehen davon ist es höchste Zeit, Digitalisierung auch in dem Bereich voranzubringen. Eine vernünftige Nutzung fördert die Medienkompetenz, die inzwischen in fast jedem Beruf im späteren Leben gefordert wird. Sie ist ja eine Voraussetzung für die Zukunft, und Schule soll ja zukunftsfest machen.
Ich glaube auch, dass durch Apps ein individuelles und effektives Lernen gefördert wird. Wir Schüler haben schon viel Erfahrung mit dieser Technik. Denn es gibt immer wieder kleinere Pilotprojekte im Unterricht, wo man das dann mal ausprobiert und die Lehrer einem verschiedene Varianten zeigen. Zum Beispiel dazu, dass man Künstliche Intelligenz wie ChatGPT zum Vokabelabfragen nutzen kann. Das ist auf jeden Fall sehr, sehr hilfreich.
Doch ich bin auch für Bedingungen, an die das Smartphone an der Schule geknüpft sein sollte: Meine Schule, das Gymnasium Hankensbüttel, war eine der ersten im Landkreis, die Handynutzung zugelassen hat. Immer unter der Bedingung, dass es eine gezielte Integration in den Unterricht gibt. Auch muss eine Aufklärung stattfinden. Und das Wichtigste bei diesem Prozess ist für mich, dass Schülerinnen und Schüler eingebunden werden. Schüler hören eher auf Regeln, die schülergemacht sind. Weil es nicht so von oben bestimmt und dafür nachvollziehbar dargestellt wird.
Cybermobbing und Grooming, was die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen meint, sind reale Risiken der digitalen Sphäre. TikTok und andere Social-Media-Apps können schnell süchtig machen und sozial isolieren. Werden Gifhorns Schülerinnen und Schüler dazu aufgeklärt?
Ich glaube, hinter dem Bildschirm traut man sich doch noch mal mehr als in echt. Und deswegen ist die Aufklärung über Cybermobbing und auch Grooming auf Social Media umso wichtiger. Diese Prävention startet gerade ganz langsam, aber für mich persönlich viel zu spät.
Es gibt Angebote im Landkreis Gifhorn – wie zum Beispiel Smile am Philipp-Melanchthon-Gymnasium in Meine –, die sind zwar vorhanden, finden aber nicht regelmäßig statt. Und es wird zu wenig Werbung für sie gemacht. Für mich fühlt es sich so an, als ob dieses Thema noch nicht genug Relevanz in den Köpfen der Erwachsenen bekommen hat. Dazu zählen wir im Übrigen auch den Schutz vor Falschinformationen und Manipulationen.
Es gibt gute Seiten am Netz – dass man partizipieren und sich engagieren kann. Doch das muss vermittelt werden. Einfach diese Waage zwischen Vorteilen und auch wirklich krassen Risiken aufzeigen.
Die Klimakrise gilt als größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Ich habe mit Schülern der Mittelstufe gesprochen, die sagen: „Über den Klimawandel haben wir nie wirklich gesprochen.“ Ist das nicht ein Widerspruch?
Ich teile diese Sorge. Es ist zwar super wichtig, dass junge Menschen sich darum kümmern. Aber auch die arbeitende Gesellschaft muss sich mehr darum zu kümmern und das Thema nicht an uns junge Menschen abschieben. Das habe ich leider auch schon häufiger erlebt, dass dann gesagt wird: Okay, Klima, linksgrün, ja, das ist ja alles für die jungen Leute. Ja, nee, leider halt nicht.
Wie wichtig der Klimawandel eingeschätzt wird, hängt von der Schule ab, auf die man geht. Und da dann teilweise wahnsinnig viel vom Engagement der Schülerinnen und Schüler. Die Lehrkräfte sind, wie gesagt, an den Grenzen der Kapazitäten. Und so wird das Thema schlichtweg ignoriert. Das ist wirklich eine Sache, wo gerade auch die Politik in der Position wäre, härter durchzugreifen und darauf hinzuweisen: Nein, ich erwarte, dass Ihr als Schulen darüber aufklärt und entsprechende Lerninhalte aufnehmt. Und dass sich auch außerhalb vom Unterricht in Form von Projekten damit beschäftigt wird.
Ich habe mich mit unseren Schulsprechern ausgetauscht, wie das an deren Schulen aussieht. Es ist schon so, dass der Klimawandel in der Oberstufe Unterrichtsinhalt in Erkunde ist. Da werden etwa die Nachhaltigkeitsziele behandelt. Es ist auch so, dass bei uns im Landkreis zumindest die meisten Schulen wirklich Klimaprojekte verfolgen wie grüne Klassenzimmer oder Umwelt-AGs, in denen es um Fairtrade, Globalisierung und Arbeit im Wandel geht. Nur da muss man auch ganz ehrlich sagen: Wenn das schon aus Schülerhand angestoßen wird, ist es entmutigend, wenn wir Lösungen erarbeiten und zum Landkreis gehen, dann aber keine finanziellen Mittel für die Umsetzung aufgebracht werden.
Hast Du ein Beispiel dafür?
In mehreren Schulen haben wir uns zum Umwelttag mit dem Thema Mülltrennung beschäftigt. Für die Klassenräume sollten dann verschiedene Mülleimer besorgt werden. Die Antwort war: Die Umsetzungsdauer des Landkreises ist zu hoch, der Haushalt ist am platzen. Und da haben wir dann natürlich das Gefühl, dass an uns und im Bildungswesen generell gespart wird. Ich finde, das kann es einfach wirklich nicht sein.
Mehr als jedes fünfte Kind in Niedersachsen gilt laut dem Landesamt für Statistik als armutsgefährdet. Spielt kein Geld zu haben an Gifhorner Schulen eine Rolle?
Wir stellen fest, dass Mobbing oder Ausgrenzung wegen finanzieller Unterschiede wenn, dann vermehrt in der Unterstufe vorkommen. Wir merken, dass auch da die Aufklärung fehlt, dass die Prävention fehlt, auch irgendwie das Eingreifen von Erwachsenen, ob das jetzt durch Lehrkräfte erfolgt, durch Präventionsmitarbeiter oder die Eltern zu Hause. In der Oberstufe geht es auf jeden Fall weit gesitteter zu.
Wo wird Armut dann besonders spürbar?
Etwa bei der Bücherausleihe und bei Klassenfahrten. Es gibt zwar Möglichkeiten der Unterstützung wie Fördervereine, aber diese zu beanspruchen, fällt einigen verständlicherweise schwer, weil die Akzeptanz für Armut nicht so da ist. Wenn wir im Unterricht über Armut reden, dann meinen wir immer nur Extrembeispiele auf Kontinenten wie Afrika und Südamerika. Aber man redet nie über Europa!
Auch geflüchteten Kindern und Jugendlichen stehen tendenziell weniger Ressourcen zur Verfügung, außerdem können sie sich schlecht verbalisieren, wenn sie sozial-emotional überfordert sind. Wie werden sie unterstützt?
Wie gut das klappt, ist von Schule zu Schule unterschiedlich. Und es hängt auch hier wieder an den handelnden Personen. Und da sind die Bemühungen teilweise groß. Es ist kein Geheimnis, dass Sprache verbindet. Das klappt in Fächern wie Musik oder Physik weniger gut, weil man da fast Muttersprachlevel zum Verständnis benötigt. Doch das Lernen, der Unterricht und die Gruppenarbeiten verbinden.
Deswegen plädieren wir für eine kulturelle Sensibilisierung, interkulturelle Schulungen für Lehrkräfte und eine neue Willkommenskultur. Sie sind notwendig. Wir müssen Flüchtlinge aufnehmen und respektieren, als wären sie deutsche Staatsbürger. Kulturelle Vielfalt bereichert.
Wir müssen auch über den Sportunterricht sprechen. Lange Zeit wurden weniger leistungsfähige Kinder strukturell ausgegrenzt, wenn es zum Beispiel um die Teamwahl ging, gemäß dem Motto: Die Dicke wird zuletzt gewählt. Das traumatisiert. Viele schwänzten aus Scham den Unterricht oder ließen sich krankschreiben. Wie sieht das heute aus?
Ich muss sagen, ich bin ein sehr großer Gegner des Schwimmunterrichts. Klar, ich finde es super sinnvoll, Schwimmen in der Grundschule beizubringen. Ich finde es auch sinnvoll, dass Geflüchteten kostenfrei Schwimmunterricht ermöglicht wird.
Aber ich glaube, dass es ab der Pubertät vor allem für weibliche Personen, die sich gerade in einer körperlichen Entwicklungsphase befinden, unpassend ist, sich vor Jungs und vielleicht einem Sportlehrer ausziehen zu müssen. Wir fühlen uns dadurch auch sexualisiert. Uns wird gesagt: Du ziehst Dich jetzt aus und schwimmst oder Du kriegst eine Sechs – krass gesprochen. Und wenn Du einfach wirklich ein Schamgefühl hast und Dich nicht ausziehen möchtest, weil Du Angst hast oder mit Deinem Körper nicht zufrieden bist, sollte man darauf Rücksicht nehmen.
Eine Oberstufen-Schülerin aus Gifhorn erzählte mir, dass Leistungsdruck und Stress vor allem in Klausurenphasen enorm seien. Auch käme es nicht selten vor, dass sie bis in den späten Abend Hausaufgaben erledigen müsste. Immer mehr Schülerinnen und Schüler kämpfen mit psychischen Problemen. Übersehen Eure Lehrerinnen und Lehrer hin und wieder die Grenze des Schaffbaren?
Zuerst einmal: Auch wir im Kreisschülerrat sehen, dass psychische Probleme immer weiter anwachsen. Ich sage immer: Später wird mindestens jeder Zweite so selbstverständlich einen Psychologen aufsuchen wie jetzt den Hausarzt.
Deswegen finde ich, dass es ein notwendiger Schritt ist, in den Schulen flächendeckend Seelsorger oder Sozialpädagogen zu haben, die das größtmöglich auffangen. Natürlich ist auch hier aber der erste Schritt für Schüler der schwerste. Man muss seine Grenzen schließlich erst mal erkennen. Und auch das müsste man in der Schule beigebracht bekommen. Schulpsychologen sind notwendig, allein weil man privat auch ein halbes oder ganzes Jahr auf einen Termin warten muss.
Neben der ganzen Identitätskrise, um sich in der Entwicklungsphase selbst zu finden, ist der Leistungsdruck durch Prüfungen das anstrengendste. Man sieht fast bei jedem Schüler diesen Stimmungswechsel im Laufe des Halbjahres. Gut finde ich, dass wir seit der Pandemie die Regelung haben, nur noch drei Klausuren pro Woche schreiben zu dürfen. Die muss aber noch verschärft werden! Ich sehe es nämlich gerade auch bei mir wieder, dass ich zu den drei Klausuren pro Woche noch einen Überraschungstest schreiben muss und zu allem Überfluss mündlich in Vokabeln abgefragt werde. Und da würde ich tatsächlich sagen, vergessen Lehrerinnen und Lehrer manchmal, dass wir nur Jugendliche sind, und überschreiten eine Grenze.
Aus Angst bereitet man sich trotzdem vorher zu Hause vor, macht sich wieder diesen psychischen Stress und fragt sich: Was ist, wenn ich das nicht schaffe? Was ist, wenn ich eine schlechte Note schreibe? Und am Ende kommt man wieder schweißgebadet aus dem Kursraum. Was sollen denn die Schüler machen, die dann auch noch Prüfungsangst haben? Mentale Probleme sind da doch vorprogrammiert.
Besteht denn in Gifhorner Schulen die Möglichkeit, irgendwie zur Ruhe zu kommen?
Nicht wirklich. Das ist der nächste Punkt. In allen Schulen sollte es einen Raum geben, in dem Schüler abschalten können. Wir brauchen an Schulen verpflichtend in die Architektur geplant sogenannte Ruheräume, in denen man in Freistunden einfach mal durchatmen und für sich sein kann.
Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass immer mehr Jugendliche in Deutschland rechte Ansichten vertreten und dementsprechend auch rechtsextrem wählen. Gifhorn wird da keine Ausnahme sein. Wo schlägt politische Bildung fehl?
Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Teilweise schlägt die politische Bildung nicht nur fehl, sondern sie ist einfach schlichtweg nicht vorhanden. Diese wichtige Arbeit darf nicht an einzelnen engagierten Personen hängenbleiben.
Es gibt Aktivitäten, auch wieder auf Schülerinitiative hin, wie Bildungsdiskussionen, politische Wochen oder Demokratietage, die alle das Ziel haben, Politik irgendwie greifbar zu machen. Und ich finde gut, dass das nicht erst in der Oberstufe anfängt.
Mit politischer Bildung kann man nie zu früh anfangen, das ist einfach so. Man lernt dabei Werte wie Toleranz und Vielfalt, die zwar immer mehr in den Fokus unserer Gesellschaft rücken, aber auch immer mehr angefochten werden. Das ist mega schade.
Wie sehen also Eure Forderungen aus?
Als Kreisschülerrat gehen wir so weit und fordern im Bereich Demokratie- und Gesellschaftsbildung ein allumfassendes Konzept, das politische Bildung fächerübergreifend in Politik, Erdkunde und Geschichte integriert. Wir stellen uns da mehr interdisziplinäre Projekte vor. Oder dass man kritisches Denken, die Debattenkultur und die Medienkompetenz fördert. Nur wer eine Quelle zu prüfen lernt, weiß auch, Fake News zu erkennen und Propaganda auszuwerten. So fällt man vermutlich weniger auf rechtspopulistische Parolen rein.
Auch hilft es, mehr praktische Erfahrungen zu sammeln. Wir brauchen mehr Exkursionen und müssen mit den politischen Akteuren dieses Landes in den Dialog treten. Für dieses Konzept braucht es aber wieder Lehrerfortbildungen und Qualifikationen, die sensibilisieren. Und es ist super wichtig, dass eingegriffen wird, wenn Schülerinnen und Schüler zu extremistischen
Parolen greifen. Und dabei hilft eine erwachsene Person mit Autorität.
Ist es denn so, dass sich das Klima in den Klassenräumen verschoben hat? Haben Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, der Hass auf Geflüchtete und andere Formen der Ausgrenzung zugenommen?
Ja, auf jeden Fall. Gerade Geflüchtetenhass, Queerfeindlichkeit vor allen Dingen und vor allem Antisemitismus jetzt im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza. Das ist wirklich krass, krass angestiegen. Und man merkt das auch irgendwie an der Debattenkultur vor allem im Politikunterricht oder Geschichtsunterricht.
Es ist natürlich bemerkenswert, dass das politische Interesse der Jugendlichen wächst. Aber dann muss das Präventionsangebot mitwachsen. Denn ohne wachsen auch extreme Meinungen – egal ob rechtsextrem oder linksextrem.
Für viele Jugendliche ist dieses Extremistische sehr attraktiv, weil dadurch ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt wird. Sie haben das Gefühl, sie sind dann diese breitere Masse und sie haben irgendwie Recht und fühlen sich wahrgenommen.
Vor allem männliche Jugendliche drohen an die Rechtsextremen verloren zu werden. Sie sehen sich als die Verlierer der Globalisierung, und da holt sie rechter Populismus ab. Frauen sind tendenziell besser ausgebildet und verdienen mehr, wenn sie erstmals auf den Arbeitsmarkt kommen. Mit Geld und Wohlstand können Männer nicht mehr punkten. Das sehen auch männliche Jugendliche. Wird in der Schule darüber gesprochen, wie sich das Bild von Männlichkeit wandelt?
So hart, wie es klingt: Das wird wenig bis gar nicht thematisiert. Bei mir habe ich das noch nie erlebt. Viele denken beim Feminismus immer noch, dass man Frauen über Männer stellen möchte. Das stimmt aber nicht.
Wir brauchen dazu mehr Diskussionsräume, auch zu den Themen wie toxische Männlichkeit, Selbstbewusstsein und sexuelle Gewalt...
...weil eben nicht nur Mädchen und Frauen unter toxischer Männlichkeit leiden, sondern Jungen und Männer ja eben auch.
Die Ursachen für dieses Männlichkeitsbild oder dieses Gefühl von Männern, dass sie irgendwie die Verlierer der Globalisierung sind, hat soziale, kulturelle und individuelle Faktoren. Hauptursachen sind wohl persönliche Unsicherheiten und Identitätskrisen, wenn man soziale Isolation fürchtet. Wirtschaftliche Unsicherheit kann zu einem Gefühl von sozialer Benachteiligung führen.
Was muss sich an den Gifhorner Schulen ändern? Wie sehen Lösungen aus?
Klar ist, sie müssen so sensibel und emotional wie möglich sein. In der Schule müssen soziale und emotionale Bildung gestärkt werden und Werte wie Sozialkompetenz, Empathie und Konfliktlösungskompetenz gefördert. Das Stichwort ist da gewaltfreie Kommunikation. Denn radikaler Extremismus hängt immer mit Gewalt zusammen. Vorurteile und Feindbilder gegenüber Frauen, kultureller Vielfalt oder eben dem Feminismus gehören durch Workshops abgebaut.
Niemand kann aber Jungen und jungen Männern den Schritt abnehmen, Männlichkeitsbilder zu überdenken.