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Bringt Menschen aus dem Randbezirk ins Mittendrin: Unser Kolumnist Malte Schönfeld hat sich Gifhorner Flohmärkte genauer angeschaut

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 01.06.2025
Bringt Menschen aus dem Randbezirk ins Mittendrin: Unser Kolumnist Malte Schönfeld hat sich Gifhorner Flohmärkte genauer angeschaut

Wenn Menschen auf einem Tisch Schallplatten, Teddybären und Teekannen anbieten, kann es sich nur um einen Flohmarkt handeln. Wie genau die sozialen Begebenheiten ausschauen, analysiert KURTs Redaktionsleiter Malte Schönfeld in seiner Kolumne.

Foto: KURT Media via Dall-E

Wieder wandert mein Blick über den mit einer Pünktchen-Fleecedecke überzogenen Tapeziertisch. Auf der Suche nach was eigentlich? Urkunden aus dem Zweiten Weltkrieg, Hoheitsabzeichen, mehrere Ausgaben „Der Landser“. Aus Kartons ragen zusammengerollte Plakate, daneben Militärparka sauber aufgereiht auf einer Kleiderstange. Vermutlich ist diese Geschichtsstunde nicht ganz mein Stand. Mein letztes Reenactment der Ardennenoffensive liegt jedenfalls schon etwas zurück.

Es gibt allerhand verrücktes Zeug auf einem Flohmarkt. Teller mit Goldrand, Omas kitschige Kaffeekannen und Tassen mit Alpenpanorama aus dem letzten Ski-Urlaub in Saalbach-Hinterglemm. Auf teuer machende Uhren mit Klebespuren zwischen den Plastik-Brillis, neonfarbene Turnbeutel, Gürtel mit Glitzernieten. Brotdosen, Eieruhren, zentnerschwere Bügeleisen. Ob auf dem Supermarkt-Parkplatz in Meine, beim Dorfflohmarkt in Neubokel oder im Gifhorner Georgshof zum Frühlingsflohmarkt – das Publikum ist begeistert. Secondhand ist im Kommen.

Flohmärkte verlängern die Nutzungsdauer von Gegenständen, reduzieren Abfall und sorgen bestenfalls für eine Kreislaufwirtschaft aus Kauf, Nutzung, Reparatur und Wiederverkauf. Das freut die Umwelt. Und fördert den Nachhaltigkeitsgedanken. Was, wenn sich in der schwabbeligen Ikea-Tüte auf dieser fremden Hofeinfahrt plötzlich meine neue Lieblingsvase verbirgt? Schnell staunt man über die befreienden Kräfte der Wiederverwendung und die überraschende Langlebigkeit der Konsumgüter.

Doch der wirtschaftliche Ton ist auch rauer geworden. Man könnte sagen: Der Kapitalismus hat den naiven, leichten Spaßhandel vielerorts verschluckt. Zwar gleichen die Features immer noch dem bummligen, erholsamen Stöberspaziergang, doch die Zunahme an Gewerbetreibenden ist auffällig. Hatte sich der Flohmarkt als nachbarschaftliche, wenigstens lokale Alternative zu gewöhnlichen Wirtschaftszyklen entwickelt, konnte er in den vergangenen Jahren ein Gegengewicht zu Fast Fashion und Instagram-Impulskäufen bilden. Wir dürfen nicht vergessen: In vielerlei Hinsicht sind Amazon und Temu unsere Gegner, nicht unsere Freunde.

Zurück zu den Ständen, wo die Entdeckerinnen und Wühler das nächste Schnäppchen vermuten. Weshalb die Begeisterung für den Flohmarkt auch zunehmen könnte, abgesehen davon, dass er Teil eines Lifestyles geworden ist: die Armut. Jeder Fünfte war 2024 laut Statistischem Bundesamt in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Es scheint ökonomisch nicht ganz abwegig, ja sogar nachvollziehbar zu sein, dass der zwanglose, anonyme Trödel eine wichtige systemische Lücke schließt.

Keinesfalls aussparen sollte man das soziale Miteinander. Zwischen Krempel, Kuriosität und Dachbodenfund sind es auch Pommes, Erbsensuppe und selbstgebackener Pflaumenkuchen, bei dem Menschen mit anderen Menschen in der Nachbarschaft ins Gespräch kommen. Klingt nach wenig, aber häufig geht‘s ja genau darum: ohne Barrieren das soziale Nahfeld erweitern. Gerade für Menschen, die sonst isoliert in den Randbezirken der Gesellschaft leben.


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