Glauben & Zweifeln

Wir schaffen das gilt noch immer – Weil wir schon so vieles geschafft haben

Martin Wrasmann Veröffentlicht am 20.09.2020
Wir schaffen das gilt noch immer – Weil wir schon so vieles geschafft haben

Martin Wrasmann (links) und Daniel Maziya sind sich einig: „Wir schaffen das!“ – weil wir das schon immer getan haben. Daniel Maziya arbeitet als Bundesfreiwilliger im Begegnungszentrum Café Aller in Gifhorn.

Foto: Michael Uhmeyer

„Wir schaffen das!“ – das hat Glaubende und Zweifler auf den Plan gerufen und einen gesellschaftlichen Diskurs ausgelöst, wie ihn die Bundesrepublik wohl kaum vorher erlebt hat. Manchmal klang es wie in den beliebten Spielchen Jungverliebter beim Abreißen von Blütenblättern: Wir schaffen das – wir schaffen das nicht – wir schaffen das – wir schaffen das nicht – wir schaffen das – wir schaffen das nicht – wir schaffen das – wir schaffen das nicht – wir schaffen das...

„Wir schaffen das!“ Auch wenn alle Welt so tut: Angela Merkel hat diesen Satz nicht als Erste gesprochen. Ich weiß das ganz sicher. Schon meine Mutter hat den nämlich gesagt, wenn etwas wie ein Riesenberg vor mir lag und ich mich noch kleiner fühlte, als ich damals ohnehin schon war. Ich war sieben oder acht und vor mir lag der für mich schier unüberwindbare Haufen von Schularbeiten, es war zum verrückt werden, das schaffe ich nie... Komm – wir schaffen das! Ich helfe Dir! Mit einer Engelsgeduld ist sie mit mir Stück für Stück ans Lesen, Schreiben und Rechnen herangegangen und ich wusste: Allein hätte ich das nie geschafft.

„Wir schaffen das!“ Seit Kanzlerin Merkel diesen Satz vor Mikrophonen und Kameras sprach, hat kaum ein Satz so polarisiert. Herbst 2015, die Flüchtlingskrise auf einem ihrer Höhepunkte. Sie wollte uns aufmuntern, uns Mut machen angesichts der vielen Probleme und Aufgaben, die auf uns zukamen. Ähnlich wie meine Mutter mich aufmuntern wollte, angesichts der Schularbeiten.

Doch viele tun heute so, als hätte die Kanzlerin sie betrogen. Als wüssten sie nicht, dass Aufnahme und Integration von Geflüchteten eine Dauerbaustelle ist. Genauso wie die Hausaufgaben: Kaum ist man fertig, werden schon die neuen Aufgaben verteilt.

Drei Worte, ausgesprochen vor Journalisten im Herbst 2015. Drei Worte haben die Welt verändert – zumindest die Welt in unserem Land.„Wir schaffen das!“ Angesichts von Bildern im Mittelmeer ertrinkender Flüchtlinge, in Italien gestrandeter Flüchtlinge, wild campender Flüchtlinge – mit wenig zu essen und mangelnder medizinischer Versorgung. „Wir schaffen das!“Kurze Zeit vorher war Angela Merkel in ihrem Wahlkreis unterwegs. Ein Gespräch mit Schülerinnen und Schülern. Da weint eine der Teilnehmerinnen, Palästinenserin, vor einigen Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen: „Ich habe ja auch Ziele wie jeder andere. Es ist sehr schwer, dabei zuzusehen, wie andere das Leben genießen können. Und man das selber halt nicht mitgenießen kann.“Das lässt niemanden kalt. Auch nicht die vermutlich mächtigste Frau der Welt.

„Wir schaffen das!“ Für diesen Satz hat die Bundeskanzlerin Häme und Spott geerntet. Verbale Prügel und Vorwürfe voller Hass. Seither ist nichts mehr, wie es war. Die einen lamentierten über die Flüchtlingspolitik und offene Grenzen, über Gefahren und die vielen Kriminellen, die Deutschland und Europa überfluten und umschlingen die hier Angekommenen und nehmen sie in den rassistischen Schwitzkasten.

Die anderen krempeln die Ärmel hoch, begrüßen die Ankommenden, schenken ihnen Spielzeug und Kleider sowie was am wichtigsten ist: Zeit. Diese Menschen sind sich sicher: „Wir schaffen das!“ Und sie reden nicht. Sie handeln: Willkommenscafé und Deutschunterricht, Schwimmunterricht für die, die geflohen sind über das Meer, dem Ertrinken nah. Unzählige Angebote mitzuarbeiten und anzukommen. Niedersachsen packt an, so heißt es bei uns, und viele machen mit: Kirchen und Gewerkschaften, Arbeitgeber und die Landesregierung, Sportvereine und viele, viele, viele Bürgerinnen und Bürger – seid umschlungen.

Drei Wörter und die Welt war nicht mehr, wie sie vorher war. Drei Wörter voller Zuversicht, Widerspruch gegen alle Müdigkeit und Verzweiflung. „Wir schaffen das!“ Protest gegen alle Unmenschlichkeit, Aufschrei gegen alle, die anderen Menschen die Würde nehmen, egal welcher Hautfarbe, welcher Religion, und welcher Kultur, welchen Geschlechts und welchen Alters.
Und warum sollten Zweifel aufkommen? In der jüngeren Geschichte ist vieles unter dem Diktum „Wir schaffen das!“ neu entstanden: der Wiederaufbau nach dem Krieg, die Ölkrise, die Zusammenführung von BRD und DDR. Ein „Wir schaffen das!“ gehört zu unserer moralischen Genetik. Und es wird ja wohl nicht die große Zahl der Geflüchteten das Angstmachende gewesen sein, nach dem Balkankrieg wurde eine viel größere Anzahl von Geflüchteten aufgenommen und weitestgehend integriert.

Und es gibt eine geschichtliche Verantwortung: Eine Nation, die zulassen konnte, das mehr als sechs Millionen Juden und Jüdinnen ermordet wurden und Millionen weiterer Menschen einem menschenverachtenden Regime zum Opfer gefallen sind, wird sich ja wohl nicht der Herausforderung verschließen können, knapp eine Million geflüchteter Menschen zu beheimaten.
Wir haben es geschafft – vieles jedenfalls, und die unzähligen Geschichten gelungener Integration in den letzten Jahren haben mein und das Leben vieler anderer in dieser Stadt verändert und bereichert.

Martin Wrasmann, Pastoralreferent emeritus der St. Altfrid-Gemeinde in Gifhorn, schreibt die monatliche KURT-Kolumne „Glauben & Zweifeln“. Beipflichtungen wie auch Widerworte sind stets willkommen. Leserbriefe bitte an redaktion@kurt-gifhorn.de.


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