Raum & Zeit

Wenn alles wird, wie es war, was ist dann jetzt? Zurück in die Zukunft bringt phantastische Geschichten nach Gifhorn

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 23.12.2020
Wenn alles wird, wie es war, was ist dann jetzt? Zurück in die Zukunft bringt phantastische Geschichten nach Gifhorn

Gesichtet! Der DeLorean DMC-12 aus dem Kult-Blockbuster „Zurück in die Zukunft“ ist in Gifhorn aufgetaucht. KURT-Leser Boris Jülge hat ihn direkt am Schillerplatz vor die Linse bekommen.

Foto: Boris Jülge

Ab und zu stellt man sich die Frage, was denn wohl sei, wenn man am selben Ort, aber nicht zur selben Zeit wäre. Nur Zeitreisende können das wirklich wissen. Wie praktisch, dass der DeLorean DMC-12, die Zeitmaschine aus Robert Zemeckis‘ Kultfilm „Zurück in die Zukunft“, in unserem Gifhorn gesichtet wurde. Was erlebt dieses Auto im Corona-Jahr 2020, was erlebt es im bitterkalten August des Jahres 2071, und was widerfährt ihm, wenn er dann zur Adventszeit zurück ins Jahr 2022 reist? Das Reich der Phantasie ist wie das Reich der Zeit: Es kennt keine Grenzen...

2020

Das erste Mal wird der DeLorean DMC-12 auf der Braunschweiger Straße, Höhe Bahnübergang, gesichtet. Augenzeugen berichten, wie er buchstäblich „aus dem Nichts“ auftauchte, um dann still und leicht in Richtung Schillerplatz zu gleiten. An der Ampel muss er halten. Etwa 50 Personen demonstrieren – mit selbstgemalten Plakaten und breiten Bannern in der Hand – gegen den Klimawandel und für einen Politikwechsel. Vorneweg marschiert ein blonder Junge mit rechteckigen Brillengläsern und schreit immer wieder eingeübte Schlachtrufe in ein Megafon – die Masse antwortet unter Einsatz von in die Luft gestreckten Fäusten und Stimmbruch. Einige ältere Herrschaften stehen abseits und schütteln ihre Köpfe.

Ein Mädchen mit Pferdeschwanz steht einem Journalisten der Lokalpresse Rede und Antwort, bis die Demonstration die Allerstraße erreicht und außer Hörweite gerät, und das Mädchen mit dem Pferdeschwanz schultert seinen Fjällräven-Rucksack in der Farbe Dahlia und spurtet zurück an den Kopf der Demo. Einige Teilnehmer zücken ihre Smartphones, machen Selfie-Videos. Später wird das Filmmaterial bei InShot bearbeitet werden und auf Instagram geladen, um den Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck zu verlinken.

Der DeLorean DMC-12 biegt auf die Fallerslebener Straße, dann auf die Konrad-Adenauer-Straße und macht Halt am Schlosssee. Auf der großen Wiese fängt ein Jack Russell Terrier einen Frisbee. Ein älteres Pärchen hält einen Spaziergang ab. Auf der gegenüberliegenden Seeseite kann man erkennen, wie ein Angler seine Rute ins Wasser wirft.

Ausnahmslos alle Menschen tragen in diesem Jahr einen Mund-Nasen-Schutz, und die einen sagen, es wäre ein dystopisches Jahr, während die anderen meinen, man könne es als Zäsur und langen Moment des Aufbruchs betrachten. Der DeLorean DMC-12 schiebt sich in den Schlosshof und kommt zum Stehen. Auf der Steintreppe im Innenhof steht eine Hochzeitsgesellschaft, und die Frischvermählten strahlen künstlich in die Kamera, und genau in dem Augenblick, als die junge Fotografin abdrückt, sieht der Bräutigam den DeLorean DMC-12 und ihm entweicht ein ungläubiges „Alter“.

Plötzlich bricht der Wagen los, beschleunigt auf ein irres Tempo und zirkuliert im Schlosshof. In einem Funkensprung aus Lila, Grün und Blau durchbricht der Wagen eine durchsichtige Mauer, hinter der er wie in einem Wurmloch verschwindet. Der Jack Russell spielt mit einer Pusteblume, das alte Pärchen hat sich auf eine Bank niedergelassen, der Angler ist in seinem Camping-Stuhl eingenickt.

Mit der Hilfe von Doc Emmett L. Brown schafft es der junge Marty McFly in „Zurück in die Zukunft“ durch die Zeit zu reisen.

Foto: Universal

2071

Es ist ein später Abend im August, stumm fällt der Schnee über Gifhorn. In einer Seitenstraße reißt der Raum auf, man könnte sagen: die Dimension – und der DeLorean DMC-12 rollt aus. Die vierfach verglasten Fenster der umliegenden Häuser spiegeln das Achatgrau des Wagens.

Vier Überwachungskameras, die aus 30 Meter Höhe leidenschaftslos die letzten Ecken der Gegend scannen, stellen ihre Linsen scharf. Eine Dame mittleren Alters geht mit ihrem Hund Gassi, das Dalmatiner-Replikat hat Punkte in den Farben eines Regenbogens und verhält sich auffällig. Erst jetzt fällt ihr auf, dass das – nennen wir es mal – Tier an der Leine zieht. „So was hat er noch nie gemacht“, denkt sie sich leicht in Panik und versucht sich zu erinnern, ob das ihr echter Dalmatiner damals auch getan hat. Es mag ihr nicht in den Sinn kommen, und sie wischt diesen Gedanken weg – auch aus Angst, das Bundesministerium für Konformität könnte diesen Gedanken anzapfen.

Vorsichtig schiebt sich der DeLorean auf den Isenbütteler Weg. Außerhalb des Sichtfeldes der Überwachungskameras übernimmt nun eine Drohne, die in unmessbarer Höhe leise ihren Patrouilleflug ableistet, die Videoaufnahmen, welche später in den News-Kanälen Gifhorns laufen werden. Es sind generierte Nachrichten, die keinen Ton haben und keinen Ton haben sollen. Sie sind das Resultat zu Ende gedachter Sachlichkeit, die von Bundeskanzler Horst Seehofer 3 als Berichterstattungsgesetz ausgegeben wurde. Das Jahr 2071 ist klar, gebaut und förmig. Es gibt keinen Platz mehr, denn alles ist da.

Der DeLorean erreicht den Sonnenweg. Wie von Zauberhand bleibt der Schnee in der Luft stehen und die Flocken wiegen wie Millionen von Wattekugeln nur leicht hin und her. Der Schnee, ja der Schnee. Auf Geheiß von Wetterminister Markus Söder 2 sollte es überall so aussehen wie in seiner ehemaligen Heimat Bayern. Grelle Neonlichter – in einer Farbe, die im Jahr 2056 eingeführt wurde und bis dahin nicht bekannt war – tauchen die Szene in einen Ton, der einerseits Liebe und andererseits Furcht auslöst. Irrlichternde Menschentrauben rauchen vor den Bars industriell hergestelltes Marihuana, dessen Wirkungsgrad durch die Vermischung mit Benzodiazepin um ein vielfaches höher ist als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Menschen – sind das überhaupt noch Menschen? – erscheinen eigenartig gräulich, ihre Haare stehen dunkel zu Berge, unterschiedliche Körperteile wirken in biolumineszierenden Fasern. Jemand erschießt eine andere Person. Keine Reaktion der Umherstreifenden. Der Schnee beginnt wieder zu fallen.

Im DeLorean DMC-12 fängt der Fluxkompensator an zu surren, die Drähte stehen unter Strom – und in dem Moment, in dem der Wagen auf genau 142 Kilometer pro Stunde beschleunigt, öffnet sich erneut ein Tor in eine andere Zeit.

2022

Auf dem Gifhorner Marktplatz steht ein monumentaler Weihnachtsbaum, er ist geschmückt mit silberfarbenem Lametta, handballgroßen Glaskugeln, Kunstschnee liegt auf seinen Zweigen, und ein Stern thront auf der Spitze. Ein Ehepaar in fortgeschrittenem Alter schiebt sich eingehakt Meter für Meter nach vorne. Sie staunt: „Dass das alles wieder möglich ist...“ Sie hatte schon immer etwas für Weihnachten übrig gehabt. Als die zwei Kinder noch im Hause waren, ganz früher, hatte sie alles Erdenkliche dafür getan, dass es der Familie in der Adventszeit gut ging. Es sollte die schönste Zeit des Jahres sein. Für die Kinder bastelte sie Adventskalender, und die Beutel waren gefüllt mit süßen Leckereien wie Kekse oder Schokolade. Wenn der Mann abends von seiner Arbeit nach Hause kam, wartete bereits ein Stück des frisch gebackenen Christstollens auf ihn. Bereits eine Woche vor Heiligabend fuhren sie in die umliegenden Dörfer und suchten nach dem perfekten Weihnachtsbaum. Er sollte prall sein, wohlgeformt und keine Lücken zwischen den Zweigen haben.

Manches Mal – das blieb aber das Geheimnis der Eltern – schnitt der Mann einen abstehenden Zweig ab, bohrte ein kleines Loch dort, wo es eine Lücke gab, und steckte den abgeschnittenen Zweig hinein. Manches Mal machte sie sich etwas zu viel Sorgen, das war ihr bewusst, aber abstellen konnte sie das nicht. Es ging ja schließlich um ihre Familie und um Weihnachten. An diese Jahre erinnert sich die alte Frau jetzt, noch immer eingehakt bei ihrem Mann, und ein flüchtiges Lächeln liegt auf ihrem Gesicht.

Der DeLorean DMC-12 steht einsam und ruhig an der Kreuzung Torstraße/Cardenap und beobachtet die vorbeiziehenden Menschentrauben. Manche von ihnen umklammern förmlich ihre Tassen und pusten ungeduldig, um den Glühwein trinkbar zu machen. Ein verliebtes Pärchen sucht gemeinsam ein Lebkuchenherz aus. Eine Person piekst auf einen Champignon in Knoblauchsauce, eine andere kaut Matjesbrötchen – und dann ist da noch der kleine Junge, der auf die kandierten Mandeln beißt und dabei seine Augen zukneift.

„Duuuuu, Papa?“, fragt der kleine Junge.

„Was denn, Paul?“

„Weißt Du, was ich mir zu Weihnachten wünsche?“

„Ich weiß es nicht, aber der Weihnachtsmann weiß es. Denn der hat ja Deinen Wunschzettel vom Nikolaus bekommen.“ Nun greift der Vater in die Mandeltüte.

„Ja, ich weiß“, sagt der kleine Junge und macht eine Pause. „Aber ich wünsch mir noch was, das habe ich vergessen auf den Zettel zu schreiben.“

„Was ist das denn?“, fragt der Vater wieder.

„Meine Lehrerin hat gesagt, das letzte Mal Schnee gab es an Weihnachten vor zwölf Jahren. Ich habe noch nie Schnee zu Weihnachten gesehen. Und das wäre schön, das wünsche ich mir – Schnee zu Weihnachten. Ganz viele weiße Flocken, und ich möchte einen Schneemann bauen und mit Dir eine Schneeballschlacht machen. Ja, das wünsche ich mir.“

„Das ist ein ziemlich großer Wunsch, Paul. Aber wenn Du nur fest genug daran glaubst und vielleicht die ganze Klasse sich das gemeinsam wünscht, dann könnte es klappen.“

Langsam setzt der DeLorean wieder an und wendet auf die Celler Straße, auf Höhe der KURT-Redaktion beschleunigt er auf genau 142 Kilometer pro Stunde und verschwindet in einem aufgebrochenen Loch aus Raum und Zeit. Noch am Abend – der kleine Paul liegt da bereits im Bett – sitzt der Vater auf dem Sofa und schaut auf sein Smartphone. Für Heiligabend ist eine Schnee-Wahrscheinlichkeit von 92 Prozent angegeben.


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