Kopfüber-Kolumne
Über Wut an der Ampel: KURT-Kolumnist Malte Schönfeld fragt sich, wie viel Privates in die Öffentlichkeit gehört
Malte Schönfeld Veröffentlicht am 13.02.2022
KURT-Kolumnist Malte Schönfeld beobachtet: Es sind vor allem die vermeintlich negativen Emotionen, die auf der Straße hinausposaunt werden – Verbitterung, Zorn, sogar Hass.
Foto: Raphael Brasileiro/Pexels
„Jetzt fahr‘ doch, Du Affe“, schnauzt der Herr auf dem Mountainbike. Ein Autofahrer hatte die auf Grün gesprungene Ampel nicht bemerkt. Wild gestikulierend steht der schäumende Fahrradfahrer also dort, versucht auf sich und die Ampel aufmerksam zu machen. „Bist Du farbenblind, oder was?“, furort er. Hätte er die Hupe des Autofahrers, er würde sie durchdrücken, bis der Airbag quillt. Nun, da der Autofahrer sich – ohne durch ein Handzeichen entschuldigend auf den Fahrradfahrer versöhnlich einzuwirken – aus seinem Tagtraum löst und losfährt, als wäre nichts gewesen, hängt eine unangenehme, einseitige Aggression in der Gifhorner Luft.
Ständig ist der öffentliche Raum bis zur Decke, bis in die letzte Ecke vollgestellt mit Emotionen, Meinungen und Beleidigungen. Man kann sich davor gar nicht retten. Es sind vor allem die vermeintlich negativen Emotionen, die auf der Straße hinausposaunt werden: Verbitterung, Zorn, sogar Hass. Die Wut über den Autofahrer schien so groß, dass es gar nicht mehr anders ging. Das musste jetzt raus. Keine Chance, an sich zu halten. Eine Affektschimpferei. Oder bin ich da zu spießig, zu empfindlich?
Beinahe am meisten ärgern mich die scheinbar harmlosen Telefonate in der Öffentlichkeit, in einem Zugabteil oder während ich beim Einkaufen in der Schlange stehe. Die Lautstärke dieser Gespräche ist beträchtlich, schließlich werden sie häufig über die wunderbare Freisprechfunktion geführt. Ähnlich gravierend: das Einsabbeln von Sprachnachrichten. Die Faulheit der Menschen, mittlerweile sogar das Eintippen der Nachrichten zu umgehen, führt unweigerlich dazu, dass der öffentliche Raum mit noch mehr Wörtern, mit noch mehr Wortfetzen, mit noch mehr äh und öh gefüllt wird.
Ich frage mich: Wie viel Privates verträgt der öffentliche Raum noch?
Je älter ich werde, desto mehr stelle ich fest, dass ich ein großer Befürworter der Zivilisation bin. Ich sage es jetzt einfach mal frei raus: Ich finde Zivilisation super. Auf der Habenseite der Zivilisation stehen so Dinge wie ein halbwegs sicheres Wohnen, die medizinische Grundversorgung, die Rückläufigkeit von Kriegen, die gewissenhafte Durchsetzung vernünftiger Paragraphen durch Profis und die Möglichkeit, bis auf sonntags in den Supermarkt gehen zu können, um Club Mate und Klopapier zu kaufen. Dass wir es hierhin geschafft haben, ist schon eine beachtliche Leistung, wenn man ins Auge fasst, wo wir angefangen haben.
Der vielleicht größte Pluspunkt der Zivilisation aber: die Schaffung und Wahrung eines privaten Raums. Zuhause kann man machen, was man möchte. Das Kaugummi unter den Tisch kleben? Kein Problem. Die letzten Reste Spaghetti Carbonara vier Tage auf dem Tisch stehen lassen? Absolut. Einfach in den Flur scheißen? Wem‘s gefällt, natürlich.
In der Öffentlichkeit haben diese Dinge aber nichts zu suchen. Sie sind Privatsache, und wir dürfen das Private und das Öffentliche nicht verwechseln. Ich denke sogar, dass wir das Öffentliche vor dem Privaten schützen müssen. Wir tragen unsere Gefühle und Meinungen in die Welt, so als wären sie wichtig. Das ist eine Unart, die wir uns im Internet angewöhnt haben.
Immer öfter fühle ich mich bedrängt durch das hohe Maß an Privatramsch, der durch die Öffentlichkeit geistert. Was ist das eigentlich für eine Marotte, den ganzen Tag anzunehmen, dass das, was man so fühlt und meint, jetzt von großem Erkenntnisgewinn für die Öffentlichkeit wäre?
Ich vermute, dahinter steckt eine neue Form von übersteigertem Selbstbewusstsein, von Egoismus und Zynismus. Was wir bräuchten, wäre ein Zögern, ein Abwarten, ein Eingeständnis des Nicht-Wissens.
Wir brauchen keine Aggression und keine Wut, wir brauchen Selbstzweifel.