Stolpersteine
Terror gegen die eigene Bevölkerung seit Tag eins: Wanderarbeiter Paul Kulling wurde wegen angeblicher Schizophrenie zwangssterilisiert
Steffen Meyer Veröffentlicht am 08.01.2025Der Nationalsozialismus zerstörte Millionen von Menschenleben, die Zahl der Opfer in Gifhorn ist mindestens dreistellig. Wie früh die Nazis nach der Machtübernahme bereits Terror nach innen gegen die eigene Bevölkerung ausübten, lässt sich anhand der folgenden Biographie ablesen. Im September 1933 kam Paul Kulling als einer der ersten Bewohner in die Kästorfer Arbeiterkolonie, knapp ein halbes Jahr später wurde er bereits wegen angeblicher Schizophrenie zwangssterilisiert. Seine Geschichte erzählt Dr. Steffen Meyer, Historiker der Dachstiftung Diakonie, in einem Gastbeitrag für KURT.
Über den am 20. August 1892 in Lindenberg/Ostpreußen geborenen Paul Kulling ist wenig bekannt. Laut eines Akteneintrags war er im Jahr 1932 aufgrund der Diagnose „Geisteskrankheit“ in der Heil- und Pflegeanstalt Treuenbrietzen untergebracht. Danach begab er sich arbeitssuchend auf Wanderschaft und hielt sich einige Monate in einer namentlich nicht bekannten Arbeiterkolonie auf.
Am 24. September 1933 traf der gelernte Korbmacher Paul Kulling in der Arbeiterkolonie Kästorf ein, seine Eltern lebten zu dieser Zeit in der Ortschaft Lipnicki. Kulling, der ledig war und keine Kinder hatte, gehörte zu den ersten Bewohnern der Anstalten, die nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von Landesmedizinalrat Dr. Wal-
ter Gerson psychiatrisch untersucht worden waren. Am 8. März 1934 diagnostizierte Gerson bei Kulling Schizophrenie, eine Krankheit, die im Sinne des Gesetzes anzeigepflichtig war. Offensichtlich von Gerson beziehungsweise Anstaltsvorsteher Pastor Martin Müller dazu aufgefordert, stellte Kulling direkt nach der Untersuchung selbst einen Antrag auf Unfruchtbarmachung.
Müller zeigte Kulling daraufhin beim zuständigen Kreisarzt an und schickte den Antrag auf Unfruchtbarmachung zusammen mit dem medizinischen Gutachten und einen von Paul Kulling unterschriebenen Aufklärungsbogen umgehend an das Erbgesundheitsgericht Hildesheim, das am 26. März 1934 den Beschluss zur Unfruchtbarmachung fasste.
Zu der Entscheidung kam das Gericht ohne Anhörung von Zeugen und Sichtung weiterer Belege. In der Begründung bezog sich das Gericht auf den Aufenthalt in der Anstalt Treuenbrietzen und der attestierten Geisteskrankheit. Außerdem, so das Gericht, habe sich Kulling danach auf Wanderschaft befunden „und nur kurze Zeit eine feste Stellung gehabt. Er steht unter dem Bann, daß man ihn verfolgt und vergiften will. Die Beobachtungen in den Kästorfer Anstalten haben mit Sicherheit ergeben, daß es sich um Schizophrenie [handelt]. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß seine Nachkommen die gleichen Erbanlagen aufweisen werden. Die Unfruchtbarmachung des Kulling war daher anzuordnen.“
Am 18. Mai 1934 wurde Paul Kulling im Allgemeinen Krankenhaus Celle sterilisiert. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt kam er in die Kästorfer Anstalten zurück, die er am 19. Juli 1934 aus freien Stücken verließ, um sich erneut auf Wanderschaft zu begeben. Danach verliert sich seine Spur.
Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf.
Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus geht weiter.
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