Stolpersteine

In Absprache mit der Cousine verstümmelt: Kurt Reinhardt kam als 32-jähriger „jugendlicher Sieche“ ins Altenheim Hagenhof

Steffen Meyer Veröffentlicht am 11.02.2024
In Absprache mit der Cousine verstümmelt: Kurt Reinhardt kam als 32-jähriger „jugendlicher Sieche“ ins Altenheim Hagenhof

Auf dem Waldfriedhof der Diakonie Kästorf wurde Kurt Reinhardt 1945 bestattet, nachdem er in der Lungenheilstätte Triangel an Tuberkulose verstarb. Das Foto entstand um das Jahr 1930.

Foto: Sammlung Archiv der Dachstiftung Diakonie

Die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn ist dreistellig. Stolpersteine in unserer Stadt erinnern an sie. Die Biographien stellt KURT in einer Serie vor. In einem Gastbeitrag schildert Dr. Steffen Meyer, Historiker und Archivar der Dachstiftung Diakonie, diesmal die Geschichte von Kurt Reinhardt. 1930 wurde er in die Heilanstalt Kästorf gebracht, bei seiner Aufnahme soll er lediger Arbeiter gewesen sein – bevormundet von seiner Cousine. Sein Schicksal: zwangssterilisiert. Diagnose: „erbkrank“.

Kurt Reinhardt wurde am 4. Oktober 1897 in Hoya an der Weser als jüngstes von drei Kindern des Ehepaares Reinhardt geboren. Die Familie lebte bis zum Jahr 1914 unter anderem in Westfalen, Hameln, Brieg, Hoya und Celle. Kurts Vater Hugo Reinhardt war Soldat, was einige Stellungswechsel nach sich zog. Er starb im Rang eines Majors und Bataillonskommandeurs am 21. August 1914 bei der Schlacht von Charleroi in Belgien. Kurts Mutter Marie Reinhardt, geborene Schmidtmann, kehrte mit ihren drei Kindern nach dem Tod ihres Mannes in ihren Heimatort Hoya zurück. Kurt, der als Kind an Diphtherie erkrankt war und bis zur Untersekunda ein Gymnasium besucht hatte, versuchte nach der Schule vergebens, in verschiedenen Berufen Fuß zu fassen. Im Jahr 1923 erlitt er einen Nervenzusammenbruch, was zu einer Aufnahme in den von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel führte. In der Folge unternahm Kurt Reinhardt laut eines Gerichtsbeschlusses mehrere Selbstmordversuche, die möglicherweise der Grund für weitere Anstaltsaufenthalte waren. Überliefert sind Aufenthalte im Stephansstift in Hannover und in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau.

Während Hans Reinhardt, das älteste der drei Kinder, seinem Vater nachfolgte und Berufssoldat wurde – er starb im Rang eines Majors am 4. September 1941 in Russland – wurde für Kurt und seine Schwester Marie-Luise vom Amtsgericht Nienburg jeweils eine Pflegschaft angeordnet. Wann genau die Pflegschaften begannen, muss unklar bleiben. Möglicherweise gab es einen Zusammenhang mit dem Tod der Mutter, die im Jahr 1928 starb. Die Vormundschaft übernahm Elisabeth von Klüfer, eine in Hoya lebende Cousine der Geschwister.

Dr. Walter Gerson diagnostizierte „angeborenen Schwachsinn mittleren Grades mit erheblicher Psychopathie“. Weil Kurt Reinhardt damit als „erbkrank“ galt, wurde er zwangssterilisiert.

Foto: Archiv der Dachstiftung Diakonie, ADHK Nr. 658

Über Kurt Reinhardts Aufenthalt in den Kästorfer Anstalten ist nur wenig bekannt. Er kam am 10. Juli 1930 in Kästorf an, wo ihn der Hausvater des Altenheims Hagenhof aufnahm, was aufgrund seines Alters zunächst verwundert. Nach Angaben von Anstaltsvorsteher Martin Müller wurde Reinhardt im Hagenhof als einer von zwei „jugendlichen Siechen“ geführt. Laut Aufnahmebucheintrag war er am Tag der Ankunft ledig und von Beruf Arbeiter. Er stand unter der Vormundschaft seiner Cousine Elisabeth von Klüfer, an den Pflegekosten beteiligte sich die Fürsorgebehörde des Landkreises Moers.

Am 7. und 8. März 1934 fanden in den Kästorfer Anstalten psychiatrische Untersuchungen statt, an denen mehr als 30 Bewohner teilnehmen mussten. Die Diagnose des untersuchenden Psychiaters Dr. Walter Gerson lautete bei Kurt Reinhardt „angeborener Schwachsinn mittleren Grades mit erheblicher Psychopathie“. Mit dieser Diagnose galt er nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses als „erbkrank“. Die Unterlagen – das Gutachten des Psychiaters und eine Anzeige – reichte Anstaltsvorsteher Martin Müller einige Tage später beim Gifhorner Amtsarzt Dr. Erich Braemer ein. Den Antrag auf Unfruchtbarmachung hatte Elisabeth von Klüfer gestellt, sicherlich in Absprache mit der Kästorfer Anstaltsleitung.

Zuständig war im Fall von Kurt Reinhardt das Erbgesundheitsgericht Verden, das am 11. Juni 1934 die Unfruchtbarmachung beschloss. In der Begründung des Gerichts hieß es unter anderem: „Auf Grund des ärztlichen Gutachtens in Verbindung mit der Vorgeschichte und der Tatsache, dass auch eine Schwester des Kurt Reinhardt gemütskrank ist, unterlag es keinen Bedenken, eine Erbkrankheit, angeborenen Schwachsinn, als vorliegend anzusehen.“

Der Stolperstein für Kurt Reinhardt, welcher ab 1930 als „jugendlicher Sieche“ im Altenheim Hagenhof lebte, erinnert an dessen Schicksal.

Foto: Mel Rangel

Die Unfruchtbarmachung von Kurt Reinhardt erfolgte am 11. September 1934 im Allgemeinen Krankenhaus Celle. Einige Tage später kam er in den Hagenhof zurück, von wo aus er am 29. November 1934 nach Treffurt in die Privatheilanstalt von Dr. G. Rausch verlegt wurde, wo seine Schwester lebte. In einem Adressbuch der deutschen Sanatorien und Privatkliniken aus dem Jahr 1937 wird die Einrichtung als Heilanstalt für Nerven-, Gemüts- und Geisteskranke und für Entziehungskuren bezeichnet. Wie lange Kurt Reinhardt in Treffurt blieb, ist nicht bekannt. Im Stadtarchiv Hoya ließ sich aber ein bemerkenswerter Hinweis finden: Als die Schwester von Kurt Reinhardts Mutter, Elisabeth Schmidtmann, im Mai 1939 starb, kam es zu einer Testamentsverlesung, an der Hans Reinhardt und Elisabeth von Klüfer teilnahmen. Während Marie-Luise Reinhardt zu dieser Zeit in Göttingen lebte, war Kurt noch in der Privatanstalt in Treffurt. Im Schlusssatz des Testaments heißt es: „Ich bitte Alle, die ich bestimmt habe als meine Erben, keine Uneinigkeiten anzufangen, ich habe alles nach meinem besten Wissen geordnet. Es war mir eine besondere Herzenssache, für Kurt Reinhardt und Marie-Luise Reinhardt zu sorgen, damit ihr Leben und Unterhalt etwas verbessert werden kann.“

Die Spur von Kurt Reinhardt verläuft sich dann zunächst, bis er am 25. Februar 1942 in den Hagenhof zurückkehrte, wo rund 80 pflegebedürftige ältere Männer lebten.

Genau zwei Monate nach Kriegsende musste der Tuberkulose erkrankte Kurt Reinhardt dann in die Lungenheilstätte Triangel bei Gifhorn verlegt werden, wo er am 8. Juli 1945 um 15.30 Uhr starb. Drei Tage später wurde er auf dem Waldfriedhof der Kästorfer Anstalten beerdigt.

Laut eines Akteneintrages, der sich im Stadtarchiv Hoya auffinden ließ, lebte Elisabeth von Klüfer im Jahr 1958 noch in Hoya. Beim Verkauf ihres Hauses, das sich in der Kirchstraße befand, wurde sie als Verkäuferin und als Vormund der unverheirateten Marie-Luise Reinhardt genannt. Die Schwester von Kurt Reinhardt lebte zu diesem Zeitpunkt noch in Göttingen.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro:
kultur@stadt-gifhorn.de


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