Stadtentwicklung

Ich möchte kein Getriebener der Umstände werden: Stadtbaurat Oliver Bley spricht im KURT-Interview über das lebenswerte Gifhorn der Zukunft

Bastian Till Nowak, Malte Schönfeld Veröffentlicht am 07.03.2023
Ich möchte kein Getriebener der Umstände werden: Stadtbaurat Oliver Bley spricht im KURT-Interview über das lebenswerte Gifhorn der Zukunft

Lehnt sich – ausnahmsweise mal für unser Foto – ganz schön weit aus dem Fenster: Gifhorns Stadtbaurat Oliver Bley ist seit April 2022 im Amt.

Foto: Michael Uhmeyer

Wirtschaften, Wohnqualität, Klimaschutz – wie soll unser Gifhorn in Zukunft aussehen? Auf die Suche nach Antworten begibt sich KURT in einer neuen Serie zur Stadtentwicklung. Zum Auftakt trafen sich KURT-Herausgeber Bastian Till Nowak und Volontär Malte Schönfeld zum Interview mit Gifhorns Stadtbaurat Oliver Bley, um über Wohnraum, moderne Mobilität und Klimaanpassung zu sprechen.

Herr Bley, wir wollen mit Ihnen über etwas ganz Großes sprechen: eine Vision für Gifhorn. Wir haben aber gehört, dass Sie das Wort „Vision“ eigentlich gar nicht so mögen. Was stört Sie daran?

Ich habe für mich persönlich mit dem Begriff „Vision“ ein Problem. Mit Vision hadere ich. Die ist immer so weit und blumig und schwammig.

Wenn es aber darum geht, Ideen zu skizzieren, Pläne zu erstellen, Konzepte zu machen und diese dann abzuarbeiten, dann bin ich dabei. Ich bin immer dann dabei, wenn es konkret wird.

Die Stadt Gifhorn hat laut Einwohnermelderegister rund 44.000 Einwohner. Tendenz steigend. Damit zählt Gifhorn – wie rund 600 weitere Städte in Deutschland – zu den Mittelstädten. Welche Herausforderungen werden in den kommenden Jahren auf Mittelstädte zukommen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir auf die Teilbereiche schauen.

Anders als Samtgemeinden wie Isenbüttel, Meinersen und Papenteich haben wir als Mittelstadt eine deutlich ausgeprägte Innenstadt. Dort ist der Einzelhandel zu Hause. Der wiederum sieht sich in Konkurrenz zum erstarkten Online-Handel.

Doch mit dem Einzelhandel allein ist es nicht getan: Es gibt inzwischen ganz andere Anforderungen an eine Innenstadt als früher. Viele Bürgerinnen und Bürger brauchen sie nicht nur, um einkaufen zu gehen. Die Stadt darf deswegen nicht ausbluten, die Innenstadt ist das faktische und ideelle Herz unserer Stadt. Sie hat eine soziale Funktion, sie muss Begegnungsräume schaffen, auch jenseits des Konsums.

Was noch?

Die Mobilität ist immer eine Herausforderung. Außerdem die Finanzen – da müssen wir ehrlich sein. Ein großer Faktor ist die Kinderbetreuung. Da gibt‘s ein großes Delta zwischen den tatsächlichen Kosten bei den Kitas und dem, was das Land den Kommunen eigentlich als Ausgleich überweist.

Die Arbeitswelt ändert sich natürlich auch. Die Menschen sind nicht mehr gezwungen, jeden Tag zu ihrem Arbeitgeber zu fahren. Sie können auch in Berlin wohnen und pendeln einen Tag pro Woche nach Gifhorn. Andersherum genauso. Die Zusammenhänge haben sich gewandelt, was natürlich die Pandemie beschleunigt hat. Auch auf diese Herausforderung müssen wir reagieren.

Aus der Sicht eines Stadtbaurates: Was macht unsere Stadt einzigartig?

An dieser Stelle das Mühlenmuseum zu nennen, klingt wahrscheinlich ein wenig platt. Obwohl es einen wichtigen Punkt trifft. Denn das Mühlenmuseum war, ist und bleibt hoffentlich auch noch lange ein Identifikationspunkt für die Menschen in der Stadt und nach außen.

Des Weiteren haben wir eine gesunde Innenstadt, eine stabile Arbeitsplatz- und Gewerbestruktur und ein attraktives Wohnumfeld. Das macht Gifhorn vielleicht nicht einzigartig, aber schon besonders.

Wie wollen wir denn wohnen?

Der langjährige Trend beim Wohnen war in den letzten Jahren das Flächenwachstum: Die Wohnfläche pro Person wurde immer größer, während die Grundstücke durchschnittlich immer kleiner werden. Das Gegenbeispiel hatten wir früher: Grundstücke von mehr als 1000 Quadratmetern und einem Einfamilienhaus – wie im Wittkopsviertel. Wir sehen: Das braucht und will heute kaum noch jemand.

Wäre es auch unmoralisch, zukünftig noch so zu wohnen?

Das würde ich so nicht sagen. Die Frage lautet eher: Wäre es unmoralisch, so wie in den 1950ern und 1960ern großflächig die Stadt weiterzubauen? Die Antwortet lautet: Ja.

Die Entwicklung strebt zu kompakteren Wohnformen auf kleinen Grundstücken. Der richtige Weg sind vielfältige Wohnmöglichkeiten für unterschiedliche Bedürfnisse. Und andererseits müssen wir die globalen Mega-Trends einrechnen. Da kann sich Gifhorn nicht von äußeren Entwicklungen abkoppeln.

An welche – in Ihren Worten – Mega-Trends denken Sie da?

Ganz klar der Klimaschutz und die Digitalisierung. Es wird Ereignisse geben, wo wir uns plötzlich verändern müssen. Das muss nicht zwingend ein Krieg oder eine weltweite Pandemie sein. Doch wir müssen lernen, mit bestimmten Phänomenen umzugehen.

Wie kann die Stadtverwaltung zukünftig umweltschonendes Wohnen unterstützen? Welche Aspekte spielen bei der Ausweisung neuer Baugebiete eine Rolle, was sind Dinge, ohne die es in Zukunft zwingend nicht mehr gehen wird?

Das kann ich Ihnen ganz konkret erklären: In Neubaugebieten wird es zukünftig nur noch eine zentrale Gasversorgung geben, falls 60 Prozent der Wohneinheiten diesen Anschluss abnehmen. Das halte ich für fraglich. Die Bürgerinnen und Bürger fragen sich aktuell doppelt, ob sie einen Gasanschluss haben wollen oder nicht, und werden viel eher über zum Beispiel eine Wärmepumpe nachdenken. Entwicklungen wie diese werden auch von außen vorgegeben.

Eine andere Sache: In Neubaugebieten wird Regenwasser von öffentlichen Straßenflächen immer versickert, bleibt also vor Ort im Boden. Außerdem sind diese Versickerungsflächen begrünt, oft mit Bäumen.

Die ökologischen Auswirkungen auszublenden, geht heute nicht mehr.

Die Weltbank schätzt, dass bis 2050 bis zu 216 Millionen Menschen zu Klimageflüchteten werden könnten. Auch die Stadt Gifhorn wird dann ein Fluchtziel sein. Wie stellt sich die Stadtverwaltung darauf ein?

Das ist wieder einer dieser globalen Mega-Trends. Und natürlich können wir uns da als Mittelstadt nicht abkapseln.

Menschen werden vermehrt in die Stadt kommen, um Wohnraum zu suchen. Solche Zuwanderungen gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder.
Aktuell müssen in Gifhorn in Neubaugebieten 20 Prozent aller Wohnungen gefördert und damit sehr günstig angeboten werden. Das hilft auf dem Weg zu einem ausgeglichenen Wohnungsangebot.

Aber natürlich bedeutet so eine Entwicklung eine riesige Aufgabe für die gesamte Gesellschaft einer Stadt. Viele tolle Initiativen und Strukturen gibt es da heute schon, sei es bei Vereinen, zwischen Behörden, bei Arbeitgebern und Privatpersonen. Das ermöglicht Menschen das Ankommen in Gifhorn. Das werden wir in der Zukunft noch weiter fördern und verbessern.

Weiß, worauf unsere Stadt in Zukunft achten muss, um lebenswert zu bleiben: Stadtbaurat Oliver Bley.

Foto: Michael Uhmeyer

Navigieren wir in unsere Innenstadt. In den Sommermonaten drohen Innenstädte zu sogenannten Hitzeinseln zu werden – kein angenehmer Ort für Babys, Kranke und alte Menschen. Kühlen können zum Beispiel Flüsse und schattenspendende Bäume. Doch bereits im Sommer 2022 wirkten die Nebenarme von Aller und Ise erstaunlich ausgetrocknet. Müssen wir erst Aller und Ise retten, bevor wir unsere Innenstadt kühlen können?

Da sprechen Sie etwas an. Die Austrocknung des Heidesees an der B 188 und des Erikasees in Wilsche sollten uns als mahnende Beispiele dienen.
Wir müssen uns auf zwei Phänomene einstellen: Hochwasserereignisse und Wassermangel. Früher ging es um das schnelle, schadlose Abführen von Wassermassen – etwa durch Gräben und Kanalisationen. Auch heute ist das noch nötig, wenn uns ein Starkregenereignis widerfährt.

Gleichzeitig besteht aber auch die Notwendigkeit, situativ möglichst viel Wasser am Ort zu halten, damit es uns – als Grundwasser, See oder Fluss – möglichst lange zur Verfügung steht. Das gilt für Aller und Ise. Wasser, was in Richtung Nordsee fließt und als Salzwasser im Meer endet, bringt uns natürlich wenig.

Haben wir schlichtweg zu viel versiegelt?

Tja. Wenn wir alte Bebauungspläne ausrollen, ist nirgendwo von zu viel Versiegelung die Rede. Die Grundstücke konnten vollständig zubetoniert werden. Früher konnte man sich schlicht nicht vorstellen, dass das jemand macht – oder überhaupt will.

Doch die Randbedingungen haben sich da geändert. Wir haben immer mehr und mehr versiegelt. Darum müssen wir das heute begrenzen, zum Beispiel über Vorgaben in den Bebauungsplänen oder auch bei städtischen Straßenplanungen. Und wenn wir Fläche neu versiegeln, ist das immer auszugleichen.

Bevor Sie Stadtbaurat geworden sind, waren Sie der Radverkehrsbeauftragte unserer Stadt. Sie kennen sich gut mit dem Power-Wort „Mobilität“ aus. Herr Bley, auf welche Art der Fortbewegung würden Sie in 20 Jahren am ehesten verzichten wollen?

Auch da möchte ich es etwas differenzierter sehen: Ich möchte auf keine Fortbewegungsart verzichten. Auch nicht in 20 Jahren. Ich möchte mich nur im Mix von unterschiedlichen Zwecken je nach Situation anders entscheiden können.

Betrachten wir die E-Scooter. Wir haben sie seit zweieinhalb Jahren. Zugegeben, nicht alles ist positiv. Der Umgang mit den E-Scootern ist noch sehr stürmisch, wird sich aber konsolidieren. Man muss dem Prozess Zeit geben. Das ist mit jedem neuen Markt so.

Einige Bürgerinnen und Bürger beschweren sich, dass die Gehwege zugeparkt werden. Ich halte das Problem ehrlich gesagt in Gifhorn für nicht ganz so gravierend. Eine Alternative zum freien Abstellen aber wäre, dass die E-Scooter nur in ausgeschriebenen Stationen abgestellt werden dürfen.

Und wie sieht‘s mit einem Carsharing-Konzept aus?

Ich könnte Ihnen dazu jetzt einiges erzählen. Wie zu Beginn gesagt, ich freue mich immer darüber, wenn etwas konkret wird. Und in den kommenden Wochen wird es dazu eventuell Neuigkeiten geben, die ich an dieser Stelle noch nicht vorwegnehmen möchte.

Die EU hat sich mit dem „Green Deal“ zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Herr Bley, kann eine Stadt wie Gifhorn überhaupt klimaneutral sein – oder ist sie in dieser Rechnung auf die Umgebung und den Landkreis angewiesen?

(überlegt lange) Es gibt benachbarte Großstädte, die streben Klimaneutralität in recht kurzer, ambitionierter Zeit an. Das ist für sie – und wäre auch für uns – sehr schwierig.

Die EU hat ein Ziel, die Bundesregierung hat ein Ziel, das Land Niedersachsen auch. Ob ich wirklich isoliert als Stadt Gifhorn, als Kommune, Klimaneutralität herstellen kann oder ob das ohnehin immer im Verbund funktionieren muss, das vermag ich jetzt gar nicht zu sagen. Aber über kurz oder lang wird diese Kommune, werden benachbarte Kommunen und der Landkreis Gifhorn daran arbeiten müssen.

Auch die Bürgerinnen und Bürger?

Deutschland, die Bundesländer, die Kommunen – das sind ja keine fiktiven Gebilde, alles lebt von den Menschen, die dort leben. Wir müssen also alle in dem Rahmen aktiv werden, den wir beruflich und privat beeinflussen können.

Ich bin kein großer Freund davon, Notwendigkeiten schulterzuckend zu ignorieren, um ein Getriebener der Umstände zu werden. Es ist doch immer der bessere Weg, selbst das Heft des Handelns in der Hand zu halten und aktiv zu gestalten. Darum möchte ich Ideen entwickeln, wie die Menschen langfristig gut in unserem Gifhorn leben und arbeiten können.

Herr Bley, wann geht Gifhorn endlich gegen die längst verbotenen Schottergärten vor?

Ich habe mir fast gedacht, dass es in unserem Interview irgendwie auch in diese Richtung geht (schmunzelt). Fest steht: Es wird Kontrollen geben. Doch wir können nicht von oben nach unten und von links nach rechts die Stadt durchkämmen. Das schaffen wir personell nicht – und wollen wir auch gar nicht. Aber immer dann, wenn es Fälle gibt, wo wir einen Anlass haben, werden wir ihnen nachgehen.

Herr Bley, liegen Sie nachts wach...

...und fragen sich, wie es zu so viel Leerstand in der Innenstadt kommen konnte?

Es gibt bestimmte Objekte, die stehen leider sehr lange leer – das stimmt. Manchmal, weil sie denkbar schlecht für Einzelhandel und Gewerbe geschnitten sind. Auch die Eigentümerstruktur macht etwas aus. Manchmal braucht es da nur einen Eigentümerwechsel als neuen Impuls. Ich würde sagen, unsere Innenstadt weist vergleichsweise wenig Leerstand auf. Viele negative Beispiele sehe ich da nicht.

Dann ist das ja gar nicht so schlecht wie man auf Facebook immer liest...

…und vor allem ist es nicht so schlimm wie in anderen Städten, in denen ich gewesen bin – zum Beispiel im Ruhrgebiet.

Im Nörgeln über Gifhorn sind doch die Gifhornerinnen und Gifhorner häufig die besten.

Im Nörgeln ist der Einheimische immer recht gut, das ist überall so und kein zwingendes Gifhorner Phänomen. Wenn ich zu Hause 20 Jahre lang auf dieselbe Tapete starre, kann ich sie vielleicht irgendwann nicht mehr sehen und finde sie furchtbar. Jemand anderes mag sie aber ganz schick finden. Das ist ein ganz normales Verhalten

5 schnelle Fragen an Oliver Bley

Wann wird die Stadt Gifhorn mit Triangel und Isenbüttel fusionieren?

Das erlebe ich wohl nicht mehr.

Um cool zu werden: Braucht Gifhorn eine Universität?

Nicht um cool, aber um noch schlauer zu werden.

Woran scheitert‘s eigentlich, dass es in der Innenstadt kaum freies W-Lan gibt?

Nicht an uns (lacht). Gute Frage. Freifunk ist damals, 2016, eine gute und richtige Möglichkeit gewesen, die man auch hätte ausbauen können. Woran es womöglich gescheitert ist, vermag ich nicht zu sagen.

Warum haben wir mit Aller und Ise zwei märchenhafte Flüsse, aber keine anliegende Promenade, um sommers in einem kleinen Café zu sitzen und eine Weißweinschorle zu genießen?

Noch nicht! Aber wir denken ja grundsätzlich. Dazu gehört auch die Aufwertung unserer Flüsse. Flüsse, die wohlgemerkt vor einem halben Jahrhundert hergerichtet wurden, um möglichst viel Wasser schnell abzuführen – da werden wir anders denken müssen. Wir renaturieren derzeit ein Stück der Aller, und das muss nicht das letzte Stück der Aller gewesen sein.

Kommt nach dem Stadtbaurat für Sie dann nur noch das Amt des Bürgermeisters?

Nein.


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