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Herzrasen in Frankreich - KURT Kolumnistin Marieke Eichner sinniert über das Wesen der Angst

Redaktion Veröffentlicht am 09.08.2022
Herzrasen in Frankreich - KURT Kolumnistin Marieke Eichner sinniert über das Wesen der Angst

Ein Blick in den Außenspiegel reicht, um Ängste zu spüren. Doch es gibt auch Abhilfe, wie KURT-Kolumnistin Marieke Eichner erkannt hat: das Verliebtsein.

Foto: Pexels (Symbolfoto)

„Das Leben zieht an mir vorbei. Die Zeit hat ihre Bedeutung verloren. Meine Anwesenheit ist zum buchstäblichen Dasein verkommen. Ich lasse mich treiben im Strom der Unendlichkeit der Schwerkraft. Ich bin eins mit der Straße.“

„Geht‘s Dir gut?“, fragt der Fahrer dreist schadenfroh lachend. Gerade hat er die dritte Kurve hintereinander mit nicht weniger als 70 Stundenkilometern genommen – auf dem Verkehrsschild, das ich verschwommen an uns vorbeirauschend wahrnehme, prangt zur touristischen Abschreckung eine gewagte 100. Autos mit französischem Kennzeichen hupen hier für gewöhnlich, sobald diese magische Kennziffer mutwillig unterschritten wird. Hinter mir auf dem Rücksitz sitzt belustigt grinsend der Dritte im Bunde unserer nicht ganz so ernstzunehmenden Selbsthilfegruppe, den
anonymen Historikern. Wir sind unterwegs im Elsass. Und ich habe Angst um mein Leben. Während wir die Serpentinen hinunterbrettern, nutze ich mein hilfloses In-die-Welt-und-Kurven-geworfen-Sein, um über die Angst nachzudenken.

Nach meiner größten Angst gefragt, antworte ich für gewöhnlich mit einem überzeugten: „Spinnen!“ und lache dabei, des Klischees wegen. Aber das ist Quatsch; eine Smalltalk-Antwort. Das ist keine Angst, es ist Ekel. Angst sitzt tiefer, ist enger, dunkler als intensiv greller Ekel. Angst ist, was kalt zupackt, lähmt, einengt, die Perspektive bis auf einen hell leuchtenden Punkt am Ende des Fluchtkorridors zuschnürt. Was ist Deine größte Angst?

Ich habe Angst, wenn jemand anderes am Steuer sitzt. Ich habe Angst, wenn ich die Kontrolle über mein Leben abgebe. Ich habe Angst vor Unerwartetem. Ich habe Angst, es nicht zu schaffen.
Ich habe Angst, Menschen zu vertrauen. Ich habe Angst, sie in mein Herz zu lassen. Ich habe Angst, das alles umsonst ist. Ich habe Angst, nicht genug zu sein.

Ein paar Wochen später bin ich wieder in Frankreich, diesmal in Paris. Mit der brennenden Kippe zwischen den Fingern sitze ich zeitunglesend in einem Straßencafé. Hier fahren die Autos beruhigend langsamer vorbei als im bergigen Südosten. Geht auch gar nicht anders, meist bilden sie nämlich einen Stau. Dem kann man dann zugucken und der Kakophonie der Großstadt lauschen, während man wie ich und die anderen Cafégäste das Prickeln der Sommersonne im Gesicht genießt. Vor mir auf dem Tisch steht ein Glas Wein. Neben mir auf dem Stuhl sitzt er. Der Mensch, der unerwartet Teil meines Lebens wurde. Der Mensch, dem ich verrückt abrupt vertraute. Der Mensch, in den ich mich unkontrolliert verliebt habe.

Und plötzlich habe ich keine Angst mehr. Das Leben zieht an mir vorbei. Die Zeit hat ihre Bedeutung verloren. Meine Anwesenheit ist zum buchstäblichen Dasein verkommen. Ich lasse mich treiben im Strom der Unendlichkeit der Schwerkraft. Ich bin eins mit der Straße.


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