Stolpersteine

Das Erinnern ist auch Erlösung: Auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf sind zehn Stolpersteine verlegt worden

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 29.11.2022
Das Erinnern ist auch Erlösung: Auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf sind zehn Stolpersteine verlegt worden

Künstler Gunter Demnig brachte zehn Stolpersteine zur Verlegung auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf mit. Rund 60 Personen gedachten der Gifhorner Opfer der nationalsozialistischen Gräuel.

Foto: Mel Rangel

Manche Tage verweilen nur kurz im Anwesen der Erinnerungen, dann entschwinden sie und lösen sich auf. Andere Tage dagegen bleiben. Der 25. Oktober, ein Dienstag, ist einer dieser Tage. Dieser Vormittag im Herbst bleibt. Denn zum zweiten Mal wurden auf dem Gelände der Diakonie Kästorf Stolpersteine verlegt. Zehn sind es an der Zahl. Sie stellen die Namen und die Lebensgeschichten von Menschen in den Mittelpunkt, die unter der nationalsozialistischen Diktatur und ihrem Gewaltapparat der Willkür gelitten haben.

Kurt Reinhardt, Heinrich Piepho, Friedrich Schmelzer, Anton Szymalla, Erich Lange, Franz Buda, Wilhelm Fink, Hans Löwenstein, Gretus Schütte und Hermann Neure – das sind die Namen der zehn Opfer, die unter dem NS-Regime in Kästorf leiden mussten. Und an die nun Stolpersteine erinnern sollen.

Bereits vor einem Jahr kam der Künstler Gunter Demnig nach Gifhorn, damals mit neun Stolpersteinen im Gepäck. Es waren die ersten, die in Gifhorn verlegt wurden. Nun kniet er wieder vor den quadratischen Löchern im Boden und füllt sie mit den handgefertigten Betonklötzen, wohl auch, um die Löcher im Bewusstsein nicht zu groß werden zu lassen.

Schätzungsweise 50, 60 Personen sind an diesem nassen Oktobertag zusammengekommen. Einige stützen sich auf ihren Regenschirmen. Andere stützen sich gegenseitig. Das Laub ist orange und gelb. Auf dem Schifferklavier begleitet Nicolae Gutu die im besten Sinne feierliche Szene.

„In den nächsten Jahren werden weitere Verlegungen von Stolpersteinen in Gifhorn und auf dem Gelände der Diakonie folgen.“
Steffen Meyer, Historiker der Dachstiftung Diakonie

Foto: Mel Rangel

„Diese Stolpersteine machen deutlich, wie aus Fürsorge sehr schnell Gewalt entwachsen kann“, sagt Dr. Jens Rannenberg aus dem Vorstand der Dachstiftung Diakonie. Mindestens 70 Menschen wurden in den Kästorfer Anstalten zur Zeit des Nationalsozialismus zwangssterilisiert. Anstaltsvorsteher, Psychiater und Amtsarzt gaben sich gegenseitig Hinweise und Empfehlungen bis zur unheilvollen Diagnose, die als Aktenvermerk historisch so wertvoll ist. Denn auf diese Weise können Historiker wie Gifhorns Dr. Steffen Meyer Nachforschungen anstellen und fast vergessene Leben rekonstruieren.

Die zehn Geschichten der Anstaltsbewohner erzählen eindrücklich, wie willkürlich der gewaltige Apparat arbeitete. Wie ohne Rücksicht auf Gesundheit und Identität „behandelt“ wurde. Eines der Opfer ist Hans Löwenstein. Mit 14 Jahren kommt er in das Erziehungsheim Rischborn, mit 17 wird er aufgrund der Diagnose „erheblich schwachsinnig“ sterilisiert.

Mehr als 86 Jahre später steht Dagmar Drexler im Kreis der Personen, die dem Verlegen der Stolpersteine in Kästorf beiwohnen. Hans Löwenstein adoptierte sie, natürlich nach dem Krieg, ließ sich allerdings von ihrer Mutter ein Jahr nach der Geburt scheiden. „Er ist Teil meiner Geschichte. Dennoch ist das alles weit weg. Aber der Lebensweg von Hans Löwenstein hat mich interessiert, deswegen bin ich hier“, erklärt die 70-Jährige.

Mit einem Jahr wurde Dagmar Drexler von Hans Löwenstein adoptiert. Ein Stolperstein erinnert an ihn.

Foto: Mel Rangel

Einmal hatte Hans Löwenstein Kontakt zur Mutter aufgenommen, um die Adoptivtochter zu sehen. „Da muss ich so acht Jahre alt gewesen sein. Doch ein Kennenlernen wurde mir verwehrt. Aus heutiger Sicht hätte ich das schon gerne gemacht. Aber wenn man als Kind ‚Nein‘ gesagt bekommt, dann ist das halt so“, schildert die in Langenhagen geborene und inzwischen im nordrhein-westfälischen Wesel lebende Dagmar Drexler.

Besonders an dieser Geschichte ist, dass ihre Mutter noch lebt. Und sie, Dagmar Drexler, erzählte der Mutter sogar von der Stolperstein-Verlegung. „Das hat sie aufgewühlt. Dennoch möchte sie daran nicht weiter erinnert werden. Sie sagt: Diese Zeit ist vorbei“, so die Tochter.

Auf dem Gelände der Diakonie Kästorf gibt es dann sogar einen Augenblick des Schmunzelns. Künstler Gunter Demnig zeigt sich nicht erfreut über die zuvor vom Diakonie-Personal gebuddelten Löcher. Die Spaltmaße seien zu groß, die Stolpersteine lägen nicht gut in ihrer Vertiefung. Irritation im Publikum, flüchtige Blicke treffen sich, kurzes Kichern in der Runde. Eine erfrischend kuriose Allüre, die der melancholischen, andachtsvollen Stimmung ein klein wenig Humor verleiht. Man merkt: Das macht alles erträglicher. Humor macht alles erträglicher.

Ingetraut Steffenhagen, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Dachstiftung Diakonie, ist nun auch Patin eines Stolpersteins.

Foto: Mel Rangel

Der Himmel ist aufgeklart. Den Schlusspunkt setzt eine ökumenische Andacht in der fußläufigen Lazarus-Kirche. Es wird auf die Angst vor dem Vergessen hingewiesen. „Wir wollen nicht denen das Feld überlassen, die meinen, sie könnten unsere Hoffnung zerstören“, schließt der katholische Pastoralreferent emeritus Martin Wrasmann und fügt ein jüdisches Sprichwort an: „Die Erinnerung ist das Geheimnis unserer Erlösung.“

Den wichtigsten Satz des Tages verlor aber Historiker Dr. Steffen Meyer: „Weitere Stolpersteinverlegungen in Gifhorn und auf dem Gelände der Diakonie in Kästorf werden in den nächsten Jahren folgen.“ Denn die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus in Gifhorn ist dreistellig.


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