Stolpersteine

Bis zum Tod blieb er in der Stadt seiner Peiniger: Erst 1987 starb Friedrich Schmelzer in Kästorf, wo einst seine Unfruchtbarmachung befohlen wurde

Steffen Meyer Veröffentlicht am 05.02.2023
Bis zum Tod blieb er in der Stadt seiner Peiniger: Erst 1987 starb Friedrich Schmelzer in Kästorf, wo einst seine Unfruchtbarmachung befohlen wurde

Der Stolperstein für Friedrich Schmelzer wurde auf dem Gelände der Dachstiftung Diakonie in Kästorf verlegt.

Foto: Mel Rangel

Millionen Menschen litten unter den Gräueltaten der Nationalsozialisten – allein in unserem Gifhorn ist die Zahl der Opfer mindestens dreistellig. Stolpersteine erinnern an sie. Ihre Biographien stellt KURT in einer Serie vor. Diesmal geht es um Friedrich Schmelzer, der im Alter von vier Jahren an Scharlach und Diphterie erkrankte. Sein Lebensweg führte ihn in die Kästorfer Anstalten, wo seine Unfruchtbarmachung befohlen wurde. Seine Geschichte erzählt Historiker Dr. Steffen Meyer in einem Gastbeitrag für KURT.

Friedrich Schmelzer hat seine ersten Lebensjahre als Sohn eines Hofmeisters in Gunsleben, Kreis Oschersleben verbracht. Im Alter von vier Jahren erkrankte er an Scharlach und Diphtherie, was laut eines Schulakteneintrages seine geistigen Fähigkeiten stark beeinträchtigte.

Die vierzehnköpfige Familie erlitt in der Folge schwere Schicksalsschläge. Die Mutter von Friedrich Schmelzer, der in Gunsleben eine Hilfsschule besuchte, starb 1908 an einer Lungenentzündung. Sechs von zwölf Kindern waren bereits an Krämpfen und Entkräftung gestorben, als der Vater ein Jahr später mit zwei Töchtern und seinem damals zwölfjährigen Sohn Friedrich nach Braunschweig zog. Hier kam Friedrich in die 5. Klasse der Kielhornhilfsschule, die er im August 1911 verließ. Sein Betragen und sein sittliches Verhalten waren gut, er galt als freundliches, gutmütiges und zuweilen vorlautes Kind. Friedrich arbeitete schon vor der Schulentlassung als Hausbursche und zog am 18. November 1911 von Braunschweig nach Volkmarode. An diesem Tag heiratete sein Vater zum zweiten Mal, der kurz darauf mit seiner Frau und der jüngsten Tochter nach Barnstorf ging.

Auch Friedrich Schmelzer lebte später als Arbeiter in Barnstorf. Dort hat er am 14. November 1929 den Entschluss gefasst, den Wohnsitz bei einem seiner Brüder aufzugeben und in die Kästorfer Anstalten zu gehen, wo er einen Tag später ein neues Zuhause in der Arbeiterkolonie fand.

Das Foto von 1942 stammt aus seiner Bewohnerakte.

Foto: Archiv der Dachstiftung Diakonie

Im Oktober 1930 beantragt Anstaltsvorsteher Martin Müller Armenfürsorge für Friedrich Schmelzer. Nach Einschätzung des Vorstehers war er aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht in der Lage, für seinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Am 8. März 1934 wurde Friedrich Schmelzer von Landesmedizinalrat Dr. Walter Gerson psychiatrisch untersucht, der sich Anfang März für mehrere Tage in Kästorf aufhielt, um psychiatrische Untersuchungen in der Arbeiterkolonie Kästorf und im Erziehungsheim Rischborn vorzunehmen. Gerson diagnostizierte bei dem damals 37-jährigen Schmelzer „einen an Idiotie grenzenden Schwachsinn“. Laut Gutachten war der als freundlich beschriebene Schmelzer „unfähig auch die einfachsten Angaben zu machen“. Auf einem Merkblatt über die Unfruchtbarmachung war er unfähig seinen Namen zu schreiben, notierte Gerson handschriftlich auf dem Dokument.

Trotzdem hat Friedrich Schmelzer seinen Antrag auf Unfruchtbarmachung angeblich selbst gestellt, wie einem Schreiben von Anstaltsvorsteher Müller an das Erbgesundheitsgericht Hildesheim vom 12. März 1934 zu entnehmen ist. Außerdem räumte Müller in dem Schreiben ein, dass Schmelzer eine „regelrechte Einsicht“ nicht besitze.

Das führte in der Folge zu einigen Nachfragen und Verzögerungen. Zunächst fühlte sich das Gericht in Hildesheim nicht zuständig und überstellte den Vorgang an das Erbgesundheitsgericht Braunschweig, das die Geschäftsfähigkeit von Friedrich Schmelzer anzweifelte und sich dabei auf das psychiatrische Gutachten und die Aussage von Martin Müller berief. Daraufhin fragte der Kästorfer Anstaltsvorsteher einen Bruder von Friedrich Schmelzer, der in Staßfurt ein Modewarengeschäft betrieb, ob er der gesetzliche Vertreter sei oder sich in der Vergangenheit nur aus persönlich-familiären Gründen um die Belange seines Bruders gekümmert habe. Als der Bruder in einem Schreiben vom 23. April 1934 eine gesetzliche Vertretung verneinte, kam Müller in Zugzwang. Er erließ für Schmelzer eine Entlassungs- und Urlaubssperre und bat zwei Tage später den Kreisarzt in Gifhorn darum, die Sterilisationsunterlagen für Friedrich Schmelzer zu unterschreiben und einen Antrag auf Unfruchtbarmachung zu stellen.

Während Müller das Gericht in Braunschweig über seine Vorgehensweise informierte, übergab dieses den Fall Anfang Mai zurück an das Erbgesundheitsgericht Hildesheim, da es für den in Kästorf wohnenden Schmelzer nicht zuständig und der Gerichtsstand Hildesheim sei.

In Hildesheim gingen dann alle Sterilisationsunterlagen für Friedrich Schmelzer am 30. Mai 1934 ein. Laut Registereintrag des Gerichts stellte schließlich ein Landwirt aus Barnstorf den Antrag auf Unfruchtbarmachung, der im Beschluss als Pfleger bezeichnet wird. Den Beschluss traf das Erbgesundheitsgericht Hildesheim am 13. Juli 1934. In der Begründung hieß es: „Der Antrag ist gestellt von Fritz Schmelzer selber, dessen Handzeichen beurkundet ist und von dem bestellten Pfleger. Vormundschaftsgerichtliche Genehmigung ist erteilt. Schmelzer ist 39 Jahre alt und leidet nach dem Gutachten des Landesmedizinalrates in Kästorf an angeborenem Schwachsinn. Es handelt sich um eine an Idiotie grenzenden Schwachsinn. Die vorgenommene Intelligenzprüfung ergab, daß er noch nicht mal den Namen des Hausvaters wußte. Körperliche und neurologische Symptome sind nicht gefunden. Die Voraussetzungen des Gesetzes sind demnach bei ihm voll erfüllt.“

Die Unfruchtbarmachung von Friedrich Schmelzer erfolgte am 14. August 1934 im Allgemeinen Krankenhaus Celle. An diesem Tag wurde für ihn erneut öffentliche Armenfürsorge beantragt. Nach seinem Krankenhausaufenthalt kehrte Schmelzer nach Kästorf zurück, wo er die nächsten Jahre in der Arbeiterkolonie lebte. Steuerkarten und andere Dokumente belegen seinen Aufenthalt und dass er mindestens einmal pro Jahr mit dem Zug von Gifhorn nach Vorsfelde fuhr, sehr wahrscheinlich um Verwandte in Barnstorf zu besuchen.

Der Clausmoorhof fungierte in den 1930er Jahren als Zweigarbeiterkolonie der Kästorfer Anstalten. Hier lebte Friedrich Schmelzer.

Foto: Sammlung Archiv der Dachstiftung Diakonie

Am 30. Januar 1942 forderte dann das Wehrmeldeamt Gifhorn Friedrich Schmelzer auf, sich für die Anlegung eines Wehrstammblattes bei der nächsten Meldebehörde zu registrieren. Zu dieser Zeit lebte Schmelzer nicht mehr auf dem Stammgelände der Arbeiterkolonie in Kästorf, sondern mit rund 50 anderen Kolonisten auf dem etwa zwölf Kilometer entfernt liegenden Clausmoorhof. Das 600 Morgen umfassende Gelände erwarben die Kästorfer Anstalten im Jahr 1931, um dort die Zweigarbeiterkolonie Clausmoorhof zu errichten.

Schmelzer kam der Aufforderung umgehend nach und ließ sich im Februar bei der Meldestelle der Gemeinde Kästorf, Kreis Gifhorn, registrieren. Wann er im Anschluss einen Musterungsbescheid erhielt und wie die Musterung ablief, ist nicht überliefert, aber das Ergebnis liegt anhand eines bemerkenswerten Dokuments vor. Am 1. September 1942 erstellte das Wehrbezirkskommando Celle einen Ausmusterungsschein für Friedrich Schmelzer, der demnach „völlig untauglich zum Dienst in der Wehrmacht“ sei. Auf diesem Dokument befindet sich das einzige Foto von Friedrich Schmelzer, das in den überlieferten Unterlagen vorliegt.

Erst 40 Jahre später gibt es wieder einen Akteneintrag. Friedrich Schmelzer, der sehr wahrscheinlich bis zum Jahr 1982 ohne Unterbrechung auf dem Clausmoorhof gelebt hat, wird in das „Altmännerwohnheim Hagenhof“ überführt. Dort lebte der Rentner, dessen Aufenthalt von der Pflegschaftskasse des Kreissozialamtes Gifhorn beglichen wurde, bis zu seinem Tod am 22. Februar 1987. Die Beisetzung fand drei Tage später auf dem Waldfriedhof der Diakonie Kästorf statt.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


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