Bildung

Warum darf ich nicht am Sport teilnehmen? KURT-Praktikantin Amy Brandes sorgt mit ihrem Interview für unerwarteten Wandel

Amy Brandes Veröffentlicht am 03.10.2024
Warum darf ich nicht am Sport teilnehmen? KURT-Praktikantin Amy Brandes sorgt mit ihrem Interview für unerwarteten Wandel

KURT-Praktikantin Amy Brandes (Mitte) mit Schulbegleiterin Margret Winkler (von links), Lehrer Oliver Wolter, Schulleiterin Frauke Heisterhagen und Mutter Peggy Brandes vor der Hauptschule Meinersen.

Foto: Michael Uhmeyer

Normalerweise macht Amy Brandes (15) aus Neudorf-Platendorf schon mal Hausaufgaben oder geht mit ihrer Schulbegleiterin Margret Winkler spazieren, während sich ihre Mitschülerinnen und Mitschüler im Sportunterricht an der Hauptschule Meinersen verausgaben und vergnügen. Doch jetzt ist das anders – denn KURT-Praktikantin Amy hat durch ihr Interview mit Schulleiterin Frauke Heisterhagen und ihrem Sport- und Klassenlehrer Oliver Wolter den Stein ins Rollen gebracht. Außerdem sprachen sie über Inklusionserfolge, Barrierefreiheit und eine starke Klassengemeinschaft.

Inklusion bedeutet für mich, dass alle Menschen zusammen sind: ob sie eine Behinderung haben, ob sie dünn sind oder ob sie was auch immer sind – und ich finde, an meiner Schule wird das schon gut gemacht.

Hey, ich heiße Amy Brandes, bin 15 Jahre alt und wohne in Neudorf-Platendorf. In Meinersen besuche ich die Hauptschule und mache jetzt ein Praktikum bei KURT.

Seit meiner Geburt sitze ich im Rollstuhl – da bekam ich nicht genug Sauerstoff und musste wiederbelebt werden. Seitdem habe ich ICP – Infantile Cerebralparese. Dabei handelt es sich um eine bleibende Störung des Haltungs- und Bewegungsapparats.

Meine Hobbys sind Malen und Geschichten schreiben. Das mache ich alles mit meinem Talker. Den habe ich seit dem Kindergarten. Es ist ein Tablet, mit dem ich sprechen kann. So wie der berühmte Physiker Stephen Hawking, nur dass ich meinen Talker nicht mit einem Muskel in der Wange, sondern mit einem Joystick steuere. Rund 3000 Wörter – aufgeteilt in Kategorien und Unterkategorien – kann ich direkt anwählen, für alles andere kann ich die einzelnen Buchstaben auf der Tastatur antippen. So habe ich auch diesen Text geschrieben.

Ich habe eine Schulbegleitung, sie heißt Margret Winkler. Sie begleitet mich schon seit acht Jahren. Ohne Margret könnte ich nicht in die Schule gehen. Und jetzt stand die Zeit der Schulpraktika bevor.

Die meisten Betriebe haben mir abgesagt. Das war eine schwere Sache, die ich die ganze Zeit mit mir herumgeschleppt habe. In Gedanken: traurig, ängstlich, wütend... Nun bin ich glücklich, dass ich diesen Platz bekommen habe. Mein Projekt, über das ich schreiben darf: Inklusion aus meiner eigenen Sicht.

Wie steht es um die Inklusion? Amy fühlt ihrer Schulleiterin und ihrem Klassen- und Sportlehrer im Interview auf den Zahn.

Foto: Michael Uhmeyer

Gemeinsam überlegten wir uns mögliche Fragen für das Interview. Das fürte ich mit meiner Schulleiterin Frauke Heisterhagen und meinem Klassenlehrer Oliver Wolter. Später habe ich noch weitere Fragen an die pädagogische Mitarbeiterin Katharina Bismarck und meine frühere Klassenlehrerin Kristina Kühn gesendet. Beide hatte ich in der 5. Klasse an der Friedrich-von-Schiller-Schule in Wolfsburg.

Kati sagt, Inklusion sei aus ihrer Sicht gescheitert: „In der Theorie ein guter Ansatz, aber in der Praxis stimmen die Rahmenbedingungen nicht. Schüler mit Förderbedarf werden in großen Klassen untergebracht und die Lehrer haben wenig Unterstützung, zu wenig Personal. Inklusion sollte im gesamten Leben stattfinden, nicht nur in der Schule. Meine Schüler haben nach wie vor Schwierigkeiten, einen Praktikumsplatz zu finden, weil diese Gesellschaft sehr leistungsorientiert ist, dabei haben sie so viele wunderbare Qualitäten.“

Außerdem hat sie mir geschrieben: „Durch Dich habe ich gelernt, dankbar zu sein für das, was man hat. Es ist eine absolute Erfüllung, mit Dir zu arbeiten, und zwar am liebsten in alltäglichen Situationen, wo Du Deine Individualität und Fähigkeiten besser präsentieren kannst als im Schulkontext. Du betrittst in Deiner Situation den Raum und strahlst und machst damit andere Menschen glücklich. Du schreibst Geschichten, die unter die Haut gehen, bist eine begnadete Künstlerin mit einem guten Auge für Ästhetik und ein absoluter Herzensmensch. Davon haben wir sehr wenige in dieser Ellenbogengesellschaft. Du bist ein Vorbild für andere.“ Danke, Kati.

„Wir bauen einen Parcours auf, damit Deine Mitschülerinnen und Mitschüler erleben, wie schwer es sein kann, mit einem Rollstuhl zu fahren.“

Oliver Wolter hat nach Amys Interview den Unterrichtsplan geändert.

Foto: Michael Uhmeyer

Doch jetzt das Interview mit meiner Schulleiterin und meinem Klassenlehrer – die Fragen habe ich vorab in meinen Talker eingegeben und zum Abspielen eingespeichert: Was war Dein schönstes Erlebnis mit der Inklusion? „Zwei Schüler mit Down-Syndrom, die hier die Schule mit Förderbedarf und danach noch die Berufsschule besucht haben, haben beide eine Festanstellung in Gifhorn und Umgebung bekommen“, berichtet Schulleiterin Frauke Heisterhagen. „Das habe ich in der Zeitung gelesen und war happy.“

Inklusion sollte Normalität für alle sein, meint Frau Heisterhagen: „Egal, wie man ist – jeder darf so sein, wie er will, und müsste auch alles tun dürfen, wie er will. Damit ist egal, ob man im Rollstuhl sitzt, dick, dünn, zu groß oder was auch immer ist.“ Für meinen Klassenlehrer Herrn Wolter bedeutet Inklusion „die Möglichkeit, an jeder Sache, an allem teilzunehmen, was es gibt“.

Ähnlich antwortete mir auch meine frühere Klassenlehrerin aus der Fünften, Frau Kühn: „Inklusion bedeutet für mich, dass alle Menschen gleichberechtigt am Leben teilhaben können. Also dass sowohl die Beeinträchtigungen als auch die besonderen Fähigkeiten eines jeden Menschen geachtet, respektiert und im Alltag beachtet werden. Leider sind wir davon sehr weit entfernt.“

An der Hauptschule in Meinersen gibt es 180 Schüler, davon rund 60 Schüler mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf. „Nach einigen Umstrukturierungen gibt es zumindest einen Förderraum“, gibt Frau Heisterhagen zu bedenken. Herr Wolter wünscht sich eine Beschulung aller Schüler von der 1. bis zur 10. Klasse: „Die guten Schüler ziehen die schwächeren dann mit und alle profitieren voneinander. Dazu müsste es aber generell eine zweite Lehrkraft geben. An unserer Schule sind alle Förderbedarfe bunt gemischt. Es gibt Fortbildungen, das ersetzt aber kein vollwertiges Studium. Dass es trotzdem klappt, bestätigt uns und gibt uns die Motivation.“

Frau Heisterhagen wünscht sich, als Schule nicht nur auf die Rechte von Schülern und Eltern gucken zu müssten, „sondern dass ich auch Pflichten von Schülern und Eltern einfordern darf. Zum Beispiel sollte es selbstverständlich sein, dass Eltern zu Elternabenden oder Elternsprechtagen kommen. Es kommen aber nur ganz wenige.“ Dies einzufordern wäre laut Frau Heisterhagen auch im Sinne der Kinder. „Das würde bedeuten, dass Ihr der Gesellschaft wichtig seid. Denn nur, wenn Eltern und Schule zusammenarbeiten, können wir Euch Kinder vernünftig großziehen.“

Schulbegleiterin Margret Winkler unterstützt Amy nicht nur täglich in der Schule, sondern tat dies auch beim Praktikum in der KURT-Redaktion.

Foto: Michael Uhmeyer

Was macht Dir an der Arbeit mit mir Spaß? „Die Arbeit mit Dir macht mir sehr viel Spaß, weil es für alle eine neue Erfahrung ist und Du so offen und unglaublich lebenslustig bist“, sagt Herr Wolter. „Du hast vom ersten Tag an gelächelt und damit bis jetzt kaum aufgehört. Das ist wahnsinnig schön zu sehen, dass Du Dich hier so wohlfühlst. Die anderen Kinder aus der Klasse haben nur genau 5 Minuten gebraucht, um Dich in ihre Mitte und in der Gruppe aufzunehmen.“

Ist unsere Schule denn schon komplett barrierefrei? „Nein“, erklärt Frau Heisterhagen. „Es wäre aber auch zu schwierig, auf alles vorbereitet zu sein. Allerdings haben wir die Zusage von unserem Schulträger, dass jederzeit bei Bedarf nachgerüstet wird.“

Und jetzt die wichtigste Frage: Was wäre nötig, um mir die Teilnahme am Sport zu ermöglichen? „Wir bräuchten wohl eine größere Sporthalle, um Dich vor umherfliegenden Bällen oder ähnlichem zu schützen“, erklärt mir Herr Wolter, der auch unser Sportlehrer ist. „Leider ist unsere Sporthalle nur etwas größer als ein Volleyballfeld.“ Und dann überlegt er weiter: „Wir könnten aber mal versuchen, einen Parcours aufzubauen und mit weiteren Rollstühlen gegeneinander anzutreten. Damit Deine Mitschülerinnen und Mitschüler erleben können, wie schwer es sein kann, mit einem Rollstuhl zu fahren.“

Mit dieser Überraschung im Interview hatte ich gar nicht gerechnet. Ein paar Wochen später haben wir eine Slalom-Strecke aufgebaut und ich bin mit meinem Elektro-Rolli gegen meine Mitschülerinnen und Mitschüler und meinen Lehrer angetreten. Die meisten Rennen habe ich gewonnen. Allerdings war es mit meinem E-Rolli gegen den klassischen Rollstuhl kein wirklich fairer Wettkampf. Wir hatten trotzdem viel Spaß und werden uns weitere Spiele ausdenken, an denen ich teilnehmen kann.

Lesen Sie hierzu auch den Kommentar von KURT-Herausgeber Bastian Till Nowak zu den Herausforderungen und Chancen der Inklusion für Betriebe:
Diese Praktikantin hat alle überrascht


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