Engagement

Von Hartz IV allein kann ja keiner leben - Die Gifhorner Tafel versorgt auch in der Adventszeit etwa 3000 Menschen in unserer Stadt

Marieke Eichner Veröffentlicht am 23.12.2021
Von Hartz IV allein kann ja keiner leben - Die Gifhorner Tafel versorgt auch in der Adventszeit etwa 3000 Menschen in unserer Stadt

Über die gespendeten Adventskalender freute sich nicht nur das Team der Tafel, sondern vor allem auch die Kundschaft.

Foto: Michael Uhmeyer

„Am Anfang waren wir drei, vier, fünf Leute“, erinnert sich Edeltraut Sack. Die Mitgründerin der Gifhorner Tafel organisiert seit 20 Jahren die Essensausgabe an Bedürftige in unserer Stadt. „Bei unserer Gründung haben wir neun Leute zusammenbekommen – damit wir als Verein zählen“, verrät sie mit einem Zwinkern. Zunächst aus dem Bekannten- und Familienkreis rekrutiert, versorgen heute mehr als 70 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer etwa 3000 Menschen mit Grundnahrungsmitteln – und dem Gefühl, nicht vergessen worden zu sein. KURT war nicht nur bei einer Essensausgabe dabei, sondern traf auch Tafel-Chefin Edeltraut Sack zum Interview.

Geschäftiges Treiben herrscht im Gifhorner Ortsteil Gamsen. Es ist früher Dienstagnachmittag und gleich soll die Essensausgabe der Tafel beginnen. „Schon morgens werden die Sachen sortiert“, erklärt Edeltraut Sack. „Hier vorne gibt‘s Fleisch und Süßigkeiten, hier Molkereiprodukte, vorne bei Bärbel Brot und bei den beiden Irinas Obst und Gemüse“, zählt die Chefin auf, die die Tafel nicht nur mitbegründete, sondern sie seitdem – seit stolzen 20 Jahren – leitet.

An drei Tagen in der Woche – jeden Dienstag, Mittwoch und Freitag – öffnet die Gifhorner Tafel ihre Türen für Bedürftige. Und weil es davon in Gifhorn immer mehr gibt, dauert die Essensausgabe jedes Mal satte zweieinhalb Stunden. Zusätzlich werden Lebensmittelpakete mit Transportern zu den nicht mobilen Kundinnen und Kunden gefahren.

„Man fragt schon mal, ob die Kunden lieber eine Tüte Chips oder eine Tafel Schokolade haben wollen; für Muslime gibt‘s Hähnchen- statt Schweinefleisch – wenn wir welches haben“, so Edeltraut Sack. „Aber man kann sich hier nicht selbst bedienen.“

Während sich die ersten Kundinnen und Kunden ihre Wartenummer abholen und in die Schlange vor dem Gebäudetor einreihen, räumen die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer drinnen die Lebensmittel an ihren vorbestimmten Platz.

Irina Zobel hilft seit zwei oder drei Jahren, sie weiß es selbst nicht mehr genau, bei der Verteilung von Obst und Gemüse bei der Gifhorner Tafel.

Foto: Michael Uhmeyer

„Ich helfe hier einmal pro Woche und mein Mann fährt auch einmal pro Woche den Bringdienst“, erzählt Andrea Stein aus Wasbüttel. Heute teilt sie die Milch- und Fleischprodukte aus. „Uns geht‘s gut“, sagt ihre Tresennachbarin Irene Klänelschen aus Meine, während sie den Kuchen einsortiert. „Und darum möchte ich etwas abgeben. Und statt einer Geldspende, möchte ich mich selbst einbringen.“ Bärbel Fries aus Triangel verteilt heute das Brot. „Ich habe schon länger überlegt, ein Ehrenamt zu übernehmen. Als ich in den Ruhestand gegangen bin, habe ich mir das hier angesehen – und bin geblieben.“

Während die letzten Lebensmittel einsortiert werden und die Schlange vor der Kasse länger wird, betritt Fahrerin Emily Janowski aus Gifhorn die Ausgabestelle. „Wir beliefern Kunden, die aus verschiedenen Gründen nicht selbst kommen können“, berichtet die junge Frau. „Oft sind sie alleinerziehend mit vielen Kindern oder physisch oder psychisch gehandicapt.“ Sie arbeitet bei der Tafel, „weil ich einen Ausgleich zu meinem Alltagsjob brauche. Und hier merkt man: Die Hilfe kommt an, die Zeit ist gut investiert.“

Als „die beiden Irinas“, wie Edeltraut sie nennt, die aber eigentlich Irina und Irine heißen, noch Obst und Gemüse verstauen, tritt die Chefin aus dem Büro- und Aufenthaltsraum und ruft: „Wir müssen jetzt aufmachen“, durch die Ausgabestelle. Die ersten Kunden treten vor die Kasse, zeigen Wartenummer und Karte vor und gehen mit ihren Einkaufstaschen die Ausgabestellen am langen Tresen ab.

Im Eingangsbereich der Gifhorner Tafel werden die Wartenummer abgegeben, die Bedürftigkeit geprüft und der symbolische Euro gezahlt.

Foto: Michael Uhmeyer

„Ich bin einmal die Woche hier“, teilt Irina Zobel mit. Wie lange schon? „Puh – drei Jahre. Oder zwei. Irine, weißt Du das noch?“, ruft sie mit einem Lachen ihrer Tresennachbarin zu. Die kann sich auch nicht mehr genau erinnern. Irina überlegt: „Ich hab aufgehört zu arbeiten und dann war der Tag einfach zu lang.“ Seitdem hilft sie immer dienstags bei der Ausgabe von Obst und Gemüse. „Es ist schön zu sehen, wenn die Leute zufrieden sind“, findet Irina. „Wenn genug da ist und ich den Leuten das geben kann, was sie sich wünschen – mag ja auch nicht jeder alles essen.“ Sie ist froh, dass die Essensausgabe nun wieder in den Räumen der Tafel stattfindet. In den ersten Coronamonaten haben die Helferinnen und Helfer noch Körbe vor den Türen gepackt.

Tresennachbarin Irine Ebert packt schon seit vier Jahren zweimal pro Woche mit an. „Mein Neffe arbeitet auch hier und hat mir davon erzählt“, berichtet die Gifhornerin. Wie allen Ehrenamtlichen der Tafel bereitet ihr die Arbeit unheimlich viel Freude. „Man kennt die Leute, sieht, wie sie sich freuen. Außerdem kann ich auf Russisch übersetzen, wenn Kunden etwas nicht genau verstehen.“
Behinderte oder betreute Menschen stehen als Erste in der Schlange, einige in Begleitung. „Die kommen zuerst, das wissen sie schon“, meint Edeltraut. Sie schaut gerade Anelina Hein an der Kasse über die Schulter. Die 20-Jährige leistet bei der Gifhorner Tafel ihren Bundesfreiwilligendienst. „Ich möchte mich sozial engagieren und später zur Polizei“, erzählt sie. „Ich find‘s gut, dass ich hier mit so vielen Kulturen in Kontakt komme, das finde ich auch im Hinblick auf meine berufliche Perspektive spannend.“

Was es so zum Leben braucht: Bei der Tafel in Gamsen verteilen mehr als 70 ehrenamtliche Helferinnen und Hel- fer Grundnahrungsmittel an etwa 3000 Gifhornerinnen und Gifhorner.

Foto: Michael Uhmeyer

Anelina überprüft die Wartenummern. „Die haben wir, damit‘s keinen Stress gibt“, wirft Edeltraut ein. Dann werden noch die Bezugskarten eingescannt und der symbolische Euro pro Kopf eingesammelt.

Da tritt Nico Dintinosante hinzu. Der Gifhorner ist der „Mann für alle Fälle“ bei der Tafel, unterstützt im Büro und hilft im Fuhrpark aus, den fünf Fahrzeugen der „Ritter der Tafelrunde“, wie Edeltraut Sack sie nennt. Nico ist seit März 2020 dabei. „Alle ziehen sich zurück – ich geh‘ raus, stelle mich und helfe“, erklärt er. „Ich hab‘ als Beifahrer angefangen, jetzt bin ich fast jeden Tag hier.“

Währenddessen bewegt sich die Schlange der wartenden Menschen langsam durch den Ausgaberaum. „Am Ende des Monats sind‘s meist mehr“, weiß Edeltraut Sack. Einmal pro Woche können sich Bedürftige Essen bei der Tafel abholen. Pro Ausgabetag werden „200, 300, manchmal 400“ mit Lebensmitteln versorgt.

„Guten Tag, ich bin vom DRK und will Adventskalender spenden“, sagt ein Mann mit einem großen Karton im Arm zu Anelina. Sogleich verstauen helfende Hände die gute Gabe, Edeltraut bedankt sich. „Heute gibt‘s schöne Blumen, die bunten sehen gut aus, schauen sie mal“, empfiehlt sie noch einem Kunden, bevor sie wieder ins betriebsame Gewusel taucht.

„Es macht mir Sorgen, dass es immer mehr Menschen werden, die auf Unterstützung angewiesen sind.“
Edeltraut Sack, Mitbegründerin und Leiterin der Gifhorner Tafel

Foto: Michael Uhmeyer

Als sie vor 20 Jahren die Gifhorner Tafel gemeinsam mit Brigitte Koralski gründete, wollten die beiden „für die Stadt Gutes tun – als Christen“. Noch heute zählt für sie: „Die Arbeit muss Spaß machen. Gegenseitiger Respekt ist das Wichtigste.“ Da tritt René Keutel aus dem Aufenthaltsraum. Der Gifhorner war früher selbst Tafel-Kunde, „jetzt will ich was zurückgeben“. An ihm vorbei trägt Henrike Keller ihre Taschen nach draußen. Die Gifhornerin kommt seit zwei Jahren zur Tafel, wohnt auf dem Campingplatz und meint: „Wenn‘s solche Stellen nicht gäbe, dann wären wir aufgeschmissen!“ Das Gemüse wolle sie gleich zu Hause einfrieren, wenn was übrig bleibt, gibt sie es weiter an ihren Nachbarn auf dem Campingplatz, der „nicht gut zu Fuß“ ist. „Es wird nichts weggeworfen“, betont die 50-Jährige. „Wenn ich manchmal sehe, wie viel eingekauft und dann weggeschmissen wird...“

In ihrer Anfangszeit versammelte die Tafel nicht mal ein Dutzend Helferinnen und Helfer, heute sind es mehr als 70. „Am Anfang war‘s nicht einfach“, erinnert sich Edeltraut Sack. In Gifhorn herrschte der Glaube, in einer so reichen Region wie der unseren gebe es keine Armut. „Aber jetzt unterstützt uns der ganze Landkreis“, dankt die Tafel-Chefin. Finanziert allein durch Spenden versorgt die Tafel heute etwa 3000 Gifhornerinnen und Gifhorner, organisiert das Schulfrühstück in der Freiherr-vom-Stein-Schule und packt gemeinsam mit dem Rewe-Konzern „Gute Kisten“ fürs Pausenbrot.

„Früher waren es vor allem kleine Familien und Einzelpersonen, heute kommen viele Flüchtlinge und Großfamilien“, berichtet Edeltraut. Die meisten verdienen nicht genug, haben zwei Jobs, sind alleinerziehend, oder die Rente reicht nicht – „und von Hartz IV kann ja keiner leben“. Die Tafel-Chefin ist besorgt, „dass es immer mehr Menschen werden“, die auf Unterstützung angewiesen sind.

Gifhorner Tafel
Im Paulsumpf 8, Gamsen
Tel. 05371-9359321


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