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Mmh, knuspriger Flammkuchen: Beim Einkaufen der Zutaten wird KURT-Kolumnist Malte Schönfeld mit der Demographie konfrontiert

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 22.10.2023
Mmh, knuspriger Flammkuchen: Beim Einkaufen der Zutaten wird KURT-Kolumnist Malte Schönfeld mit der Demographie konfrontiert

Leicht und schnell zubereitet ist der Flammkuchen eines der leckersten Gerichte des Herbstes. Beim Einkauf wurde KURT-Kolumnist Malte Schönfeld dafür von einem unerwarteten Gesprächspartner konfrontiert.

Foto: Matthias Boeckel/Pixabay

Heute Abend soll es Flammkuchen geben. Lauchzwiebeln, rote Zwiebeln, kleine Würfelchen aus Was-auch-immer statt Schinken, jeweils zur Hälfte Crème fraîche und Schmand, denn Fett ist geil, zum Schluss gemahlenen schwarzen Pfeffer drüber – fertig. Dauert vielleicht eine halbe Stunde.

Jetzt suche ich aber schon seit geschlagenen 15 Minuten diesen verdammten Teig. Natürlich bin ich zu stolz, die Supermarktmitarbeiterin, die einen Gang weiter verpackten Käse in den Kühlschrank einreiht, zu fragen. Plötzlich taucht neben mir ein kleiner Typ auf, groß wie eine deutsche Vorgartenhecke. Ich verstehe nicht, was er sagt. Ich nehme meine Kopfhörer ab, er wiederholt: Ob ich ihm was zu essen kaufen kann, er habe kein Geld mehr.

Mody kommt aus Liberia, sagt er mir, während wir durch den Laden laufen und sein Essen in meinen Korb tun. Wurst, aber kein Schwein. Fleischiger Eintopf, aber kein Schwein. Toastbrot. Sowas. Ich schätze ihn auf Mitte 20. Er sagt, er kriege gerade kein Geld mehr, irgendeine Frist sei verstrichen, alles andere ausgegeben, leere Taschen. Seit fünf Jahren sei er in Gifhorn, arbeiten dürfe er nicht. Er spricht unsere Sprache besser als ich gedacht hätte. Ich habe seinen Namen geändert.

Kein Plan, wann wir schon wieder falsch abgebogen sind. Doch seit einigen Wochen sind Migration, Ankommende, Bleibende, Weggeschickte wieder ein Thema. Das Thema. Und rattenscharf, wie die Debatte geführt wird. So als wäre Migration ein Problem und nicht grundsätzlich unsere einzige Lösung.

Hier ein kleiner Zahlen-Exkurs für alle, um auf den gleichen Stand zu kommen: In Deutschland werden die von 1955 bis 1969 Geborenen von Statistikern als geburtenstarke Jahrgänge bezeichnet, die sogenannten Babyboomer. Im aktuellen Jahr 2023 überschreitet der Jahrgang 1958 die Altersgrenze von 65 Jahren und tritt damit regulär ins Rentenalter ein. In den folgenden Jahren werden es noch viel mehr. Unsere Geburtenrate lag im vergangenen Jahr bei 1,46 Kindern je Frau. Um eine Gesellschaft stabil zu halten, spricht man gemeingültig von 2,1 Kindern. Eine schrumpfende Gesellschaft bedeutet schrumpfende Wirtschaft. Unser Erwerbspersonenpotenzial sinkt mit jedem Jahr, weil weit weniger 18-Jährige in den Arbeitsmarkt einsteigen als Arbeitende in Rente gehen. Und nicht jeder 18-Jährige fängt direkt an zu arbeiten.

Liberia ist ein westafrikanisches Küstenland. Als ein solches spielte die Versklavung in der Neuzeit eine entscheidende Rolle. Doch nie wurde Liberia kolonisiert. In eine Abwärtsspirale geriet das Land, als sich 1980 ein Militärputsch ereignete. Von 1989 bis 2003 herrschten zwei grausame Bürgerkriege, Hunderttausende wurden vertrieben, gefoltert, ermordet. Warlords terrorisierten Regionen. In Liberia wurden Kindersoldaten ausgebildet. Später berichteten ehemalige Kämpfer des Präsidenten Charles Taylor, er habe ihnen befohlen, Feinde zu essen.

Wir können es uns in Deutschland nicht erlauben, Menschen an den EU-Außengrenzen, an den deutschen Grenzen niederzuknüppeln oder abzuweisen. Wir brauchen jedes Jahr fortlaufend, bis in die 2040er hinein, Hunderttausende, um unseren Wohlstand überhaupt zu sichern. Wer nicht moralisch argumentieren möchte, sollte wenigstens die Cleverness beweisen, demographisch zu argumentieren.

Ich stehe mit Mody an der Kasse. Er sagt, er habe den Bürgerkrieg noch erlebt. Es sei genauso schlimm gewesen wie es jetzt in der Ukraine sein muss, sagt er. Als wir uns zum Abschied die Hand geben, wünsche ich ihm alles Gute. „Vielleicht sieht man sich ja wieder“, sagt er. „Bestimmt“, sage ich, glaube es aber nicht.


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