Stolpersteine

Zwangssterilisiert, aber gut genug für den Krieg: Hermann Neure wurde von den Nazis erst gepeinigt, dann eingezogen

Redaktion Veröffentlicht am 05.04.2023
Zwangssterilisiert, aber gut genug für den Krieg: Hermann Neure wurde von den Nazis erst gepeinigt, dann eingezogen

Während seiner Zeit im Erziehungsheim Rischborn wurde Hermann Neure „angeborener Schwachsinn“ bescheinigt, seine Unfruchtbarmachung später durchgeführt. Ein Stolperstein in Kästorf erinnert an ihn.

Foto: Mel Rangel

Die Handlungen der Nationalsozialisten peinigten Millionen Menschen. Allein in unserem Gifhorn ist die Zahl der Opfer mindestens dreistellig. Stolpersteine erinnern an ihre Schicksale. Ihre Biographien stellt KURT in einer Serie vor. Diesmal geht es um Hermann Neure. In jungen Jahren wurde während eines Aufenthalts im Kästorfer Erziehungsheim Rischborn seine Unfruchtbarmachung angeordnet. Durchgeführt wurde sie 1939. Ungewöhnlicherweise wurde er 1941 eingezogen, seit 1944 gilt Hermann Neure als vermisst. Seine Geschichte schildert Historiker Dr. Steffen Meyer in einem Gastbeitrag.

Die Kindheit von Hermann Neure und seinen sieben Geschwistern war von großer Armut geprägt. Nach der Scheidung im Jahr 1923 versuchte die Mutter, sich und die noch im Haus lebenden Kinder mit Gelegenheitsarbeiten und Unterstützung durch die Armenfürsorge über Wasser zu halten. Nach Ansicht der Erziehungsbehörden gelang ihr das nicht gut. Laut eines Berichts kamen die Kinder ungewaschen und mit zerrissener Kleidung in die Schule, „trieben sich umher und verübten allerlei schlechte Streiche“. Um einer drohenden Verwahrlosung zuvorzukommen, ordnete das Amtsgericht Hildesheim im Jahr 1930 Fürsorgeerziehung für Hermann und zwei seiner Brüder an.

Nach einem kurzen Aufenthalt in der Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel wurde Hermann zusammen mit einem seiner Brüder in den Knabenhof des Stephansstifts eingewiesen. In dieser hannoverschen Erziehungseinrichtung verbrachte er acht Jahre seines Lebens.

Im Mai 1930 untersuchte Obermedizinalrat Dr. Rizor Hermann Neure. Den damals 9-jährigen Jungen bezeichnete der Arzt als willensschwach, der ordentliches Arbeiten noch lernen müsse. Er sei verträglicher als sein Bruder, „aber auch nicht gerade friedlich“. In der Schule sei er unaufmerksam, uninteressiert und schlage seine Kameraden. Nach Ansicht von Dr. Rizor war Hermann Neure „minderwertig“.

Hermann besuchte im Stephansstift zunächst die anstaltseigene Hilfsschule, die er im März 1936 mit Abschluss verließ. Gute Noten bekam er in Rechnen, Heimatkunde, Geschichte und Religion. Sein Verhalten im Heim entsprach laut Entwicklungsbericht nicht den Erwartungen. Von 1930 bis 1936 wird er als trotzig, frech, unaufmerksam und ungehorsam beschrieben.

Ab April 1936 kam Hermann Neure zu verschiedenen Bauern in Dienst, um dort als landwirtschaftlicher Gehilfe zu arbeiten. Von Dauer war keines dieser Beschäftigungsverhältnisse, bei denen die Jungen oft schwere, dem Alter unangemessene Arbeit erledigen mussten. Hermann verließ einige Male unerlaubt seine Dienststelle und erfüllte die Erwartungen der Bauern und der Heimleitung nicht, weswegen er im August 1938 in das Erziehungsheim Rischborn in Kästorf verlegt wurde. Zuvor hat ihn die Heimleitung des Stephansstifts als vermeintlich schwachsinnig im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses angezeigt und seine Sterilisation beantragt. Ob er und seine Mutter davon wussten, ist anzuzweifeln.

Nach seiner Ankunft in Kästorf schrieb Hermann Neure einen Lebenslauf, der in seiner Bewohnerakte überliefert ist. Wenige Tage später bekam er Post vom Erbgesundheitsgericht Lüneburg, das ihn zu einer Sitzung am 22. September 1938 vorlud. An diesem Tag beschloss das Gericht die Unfruchtbarmachung von Hermann Neure wegen „angeborenen Schwachsinns“, die am 24. Oktober 1938 rechtskräftig wurde.

Überraschenderweise passierte dann monatelang in dieser Angelegenheit nichts. Erst als die Mutter von Hermann Neure im März 1939 die Erziehungsbehörde in Hannover um Urlaub für ihren Sohn bat, wurde der Hausvater des Erziehungsheimes, Albert Hellwig, aktiv. Er erkundigte sich beim Gifhorner Gesundheitsamt nach dem Stand der Dinge und bat darum, den Eingriff bald vornehmen zu lassen. Bei der Erziehungsbehörde in Hannover meldete Hellwig bedenken gegen den Urlaub an, da Neures Sterilisation noch nicht erfolgt sei.

Als Hermann erfuhr, dass ihm der lange ersehnte Heimaturlaub verwehrt wurde, floh er am 20. April aus der Einrichtung. Einen Tag später teilte der Leiter des Gesundheitsamtes Hausvater Hellwig mit, dass der rechtskräftige Beschluss für die Unfruchtbarmachung noch nicht bei ihm eingegangen sei und er sich an das Gericht wenden werde. Dann ging alles sehr schnell. Hermann kehrte am 23. April in das Erziehungsheim zurück. Er war bei seiner Flucht bis zu einem in Hannover lebenden Bruder gekommen, der ihm Reisegeld gab und erfolgreich zur Umkehr nach Kästorf aufforderte. Anfang Mai ordnete das Gesundheitsamt Gifhorn Hermann Neures Unfruchtbarmachung im Landeskrankhaus Braunschweig an. Albert Hellwig informierte Frau Neure über den Krankenhausaufenthalt ihres Sohnes, ging aber bemerkenswerterweise mit keinem Wort auf den Grund ein.

Am 25. Mai 1939 kehrte Hermann Neure aus dem Landeskrankenhaus zurück. Zwei Tage später durfte er für sieben Tage seine Mutter in Hoheneggelsen besuchen. Nach seiner Rückkehr begann Neure ein Dienstverhältnis als landwirtschaftlicher Arbeiter bei einem Landwirt in Mahnburg, Kreis Gifhorn. Als Lohn erhielt er monatlich 36 Reichsmark zuzüglich Kost und Logis. Als Neure am 25. Februar 1941 einen Gestellungsbefehl erhielt, waren seine Tage in Mahnburg gezählt. Voller Vorfreude meldete er sich am 3. März 1941 – seinem 20. Geburtstag – in Celle zum Militärdienst. Damit endete für ihn nicht nur die ungeliebte Zeit als landwirtschaftlicher Arbeiter, sondern auch seine elf Jahre dauernde Fürsorgeerziehung.

Nach Ansicht von Arthur Hellwig durchaus mit Erfolg, wie er der Erziehungsbehörde im Mai 1941 mitteilte. Hermann Neure sei „zwar geistig zurück und schwerfällig (wegen Schwachsinns sterilisiert) und wird nie eine ganz vollwertige Persönlichkeit werden können, doch hat er seiner geistigen Anlage entsprechend in den letzten Jahren seine Pflicht getan und sich in seiner Führung Mühe gegeben. Er war sparsam und solide und zeigte sich im allgemeinen einsichtig und gutwillig. Es ist anzunehmen, dass er bei bescheidenen Ansprüchen später im Leben seinen Mann stehen wird.“

Hermann Neure kam zur Marine und war zunächst in Cloppenburg stationiert, von Mai bis Juli 1941 hielt er sich in Gotenhafen in der Danziger Bucht auf, was ein Schriftwechsel mit Hausvater Hellwig belegt. Stolz berichtete Neure in einem Brief, wie gut es ihm bei den Soldaten gefalle und was er schon erlebt habe. „Sogar auf einem Ozean-Riesen habe ich einige Tage gewohnt. Jedenfalls, ich fühle mich sauwohl.“

Im Juli 1941 brach der Kontakt ab. Unterlagen aus dem Bundesarchiv zeigen, dass Hermann Neure im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zum Obergefreiten befördert und am 11. Januar 1944 mit einem Kriegsabzeichen ausgezeichnet wurde. Im April 1944 befand er sich mit seiner Einheit in Riga, seit dem 7. Oktober 1944 gilt er als vermisst, eine Todesmeldung liegt nicht vor.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


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