Glauben & Zweifeln
Weihnachten stellt alles auf den Kopf: Die Feier der Gottesgeburt ist auch heute noch ein Angriff auf alles Herkömmliche
Martin Wrasmann Veröffentlicht am 26.12.2020
Martin Wrasmann meint: Während die einen als Reichsbürger auf die Straßen gehen, beweisen sich die anderen Alles-auf-den-Kopf-Steller als Reich-Gottes-Bürger – also als Liebesbürger im christlichen Sinn.
Foto: Çağla Canıdar
Weihnachten ist der Zeitpunkt, an dem Gott alles durcheinanderbringt. Vorher verlief doch alles in geordneten Bahnen. Gott hat die Welt geschaffen, und war da, wo er hingehört: im Himmel. Gut, ab und zu auch auf der Erde, aber dann ganz ordentlich und gesittet im Tempel oder im heiligen Zelt. Das Volk Israel konnte sich darauf verlassen, das von Gott erwählte Bundesvolk zu sein; die Heiden konnten sicher sein, dass sie es nicht sind. Alles war im Lot, alles war, wie es sein sollte. Und dann kommt Gott, macht Weihnachten – und alles steht Kopf.
Weihnachten: Der Retter ist da! Die Trennung zwischen Gott und Mensch verschwindet. Die Trennung zwischen Juden und Heiden verschwindet, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar war. Nichts war so, wie es immer war, gefühlt stand kein Stein mehr auf dem anderen: Gott hat seine Verheißung erfüllt und auf das Rufen seines Volkes gehört, nur ganz anders – erwartet wurde der König der Könige, der Herr der Herrscher, der Erlöser der Welt.
Was schenkte er ihnen? Nur ein Kind. Der erwartete König: ein Kind – nicht mal ein kleiner Lord, ein Kind in einem Stall, mit Eltern eher aus dem Hartz-IV-Bereich, denn aus wohlhabenden Familien.
Alle Erwartungen werden auf den Kopf gestellt: Gott wird Mensch, das ewige wird zeitlich, der König ein Kind, die ersten Gäste nicht Herrscher anderer Nationen, sondern Hirten und Schafe, Ochs und Esel. Und das Erstaunlichste: Die eher zunächst traurige Geschichte mit der Stallgeburt wird zur größten Geschichte aller Zeiten. Mit Jesus stellt Gott fast jede geltende Ordnung auf den Kopf. Weihnachten bringt die Erde mehr zum Beben als ein Erdbeben der Stärke 10 – nur dass es keiner merkt.
Die Geburt dieses Kindes hat die Welt verdreht, alles auf den Kopf gestellt, auch die herrschenden Verhältnisse damals: Herodes wird hyper-nervös, lässt das Kind verfolgen – so begann die Umkehr der Welt, in dem, er, Jesus als Erwachsener die Verheißungen des alten Bundes aufgegriffen und erfüllt hat: Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören, das zerknickte Rohr zerbricht er nicht, den glimmenden Docht löscht er nicht aus.
Der Weg Jesu hat alles auf den Kopf gestellt: selig, die trauern, selig, die arm sind, selig, die Frieden stiften – in seiner Nähe werden die ganz groß, die sonst am Rande stehen. Das gebrochene Leben bekommt in seiner Nähe Rückgrat, er richtet es wieder auf.
Er stellt das herkömmliche Menschenbild auf den Kopf, er stellt den Menschen auf den Kopf, weil dort die intelligenten Entscheidungen getroffen werden.
Und heute: Weihnachten stellt alles auf den Kopf – manche rasen kopflos durch die Gegend, weil sie die Orientierung verloren haben, es bräuchte jemanden, der sie wieder auf den Kopf stellt. Diese Corona-Zeit ist eigentlich in sich schon dafür geeignet, Worte zu finden, wie Corona stellt alles auf den Kopf, vieles ist nicht mehr so, wie es mal war.
Und die am meisten gestellte Frage in den vergangenen Wochen lautete: Wie werden wir wohl Weihnachten feiern? Vielleicht kann Weihnachten ja genau wieder geraderücken, was durch Corona verrückt wurde. Auf die Frage, wie wir dieses Jahr wohl Weihnachten feiern sollten, ist meine Antwort die Bethlehemformel: Macht’s wie Gott, werdet Mensch! Ihr schafft das, weil das Beben vor 2000 Jahren in Bethlehem seine radikalen Auswirkungen bis ins Heute hat.
Auch heute ist die Feier der Gottesgeburt ein Angriff auf das Herkömmliche, auf das Sich-abfinden-Wollen. Dabei gehen die einen als Reichsbürger auf die Straßen zur Sicherung oftmals eigener oder nationaler Interessen.
Weihnachten indes begründet die Geschichte von Reich-Gottes-Bürgern, von Menschen, die auch einiges auf den Kopf gestellt haben. Im christlichen Sinn sind die Auf-den-Kopf-Steller eher wohl Liebesbürger, die mit der Botschaft des Evangeliums diese Welt verbessern wollen, im Sinne der Geburt des Friedensfürsten aus Bethlehem. Mal ganz groß, in „Fridays for Future“ oder den vielen Hilfswerken, die in diesen Tagen des Advents Großartiges leisten, oder, oder, oder... – oder mal ganz klein wie in jenem brasilianischen Gedicht:
Jedes Mal, wenn zwei Menschen einander verzeihen, ist Weihnachten.
Jedes Mal, wenn ihr Verständnis zeigt für Eure Kinder, ist Weihnachten.
Jedes Mal, wenn Ihr einem Menschen helft, ist Weihnachten.
Jedes Mal, wenn Ihr beschließt, ehrlich zu leben, ist Weihnachten.
Jedes Mal, wenn ein Kind geboren wird, ist Weihnachten.
Jedes Mal, wenn Du versuchst, Deinem Leben einen neuen Sinn zu geben, ist Weihnachten.
Jedes Mal, wenn Ihr einander anseht mit den Augen des Herzens, mit einem Lächeln auf den Lippen, ist Weihnachten.
Denn es ist geboren die Liebe, denn es ist geboren der Friede, denn es ist geboren die Gerechtigkeit, denn es ist geboren die Hoffnung, denn es ist geboren die Freude, denn es ist geboren Christus, der Herr, der alles auf den Kopf stellt, vor allem die Herzen.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Martin Wrasmann, Pastoralreferent emeritus der St. Altfrid-Gemeinde in Gifhorn, schreibt die monatliche KURT-Kolumne „Glauben & Zweifeln“. Beipflichtungen wie auch Widerworte sind stets willkommen. Leserbriefe bitte an redaktion@kurt-gifhorn.de.