Gesundheit

Über dieses Buch wird in ganz Deutschland geredet: Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Gifhorn, analysiert die sozialen Hilfesysteme

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 17.10.2024
Über dieses Buch wird in ganz Deutschland geredet: Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Gifhorn, analysiert die sozialen Hilfesysteme

Endlich Ärmel hochkrempeln und anfangen, rät Dr. Tanja Heitling, wenn es um die Neuaufstellung der sozialen Hilfesysteme geht.

Foto: Privat

„Soziale Hilfesysteme erfolgreich neu aufstellen“ heißt das neue Buch von Dr. Tanja Heitling. Darin blickt die Diplom-Psychologin und Geschäftsführerin der Lebenshilfe Gifhorn auf die Eingliederungshilfe und erkennt gewaltigen Handlungsbedarf im System. Das Erstaunliche: In zehn Prinzipien beschreibt die Berlinerin, wie dieses und alle anderen sozialen Hilfesysteme an Qualität gewinnen, während gleichzeitig Kosten gesenkt werden können. Im Interview erklärt Dr. Tanja Heitling, wie dieser scheinbare Widerspruch aufgelöst wird und neue Strukturen entstehen können.

Frau Dr. Heitling, für wen ist dieses Buch geschrieben?
Das Buch ist ein Einstieg in ein Thema, das uns alle betrifft. Jeder Mensch in Deutschland ist irgendwann im Leben auf ein soziales Hilfesystem angewiesen – ob in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Krankenkassen, Arzt- und Therapiepraxen, der Agentur für Arbeit oder Einrichtungen der Rehabilitation.

Was läuft bei unseren sozialen Hilfesystemen falsch?
Grundsätzlich ist es eher so, dass der Mensch zum System passen muss, nicht umgekehrt. Was hilft häufig, wenn man auf ein soziales Hilfesystem angewiesen ist: Spaß an Detektivarbeit, viel Zeit, starke Nerven, eine hohe Frustrationstoleranz, Geduld und keine hohen Erwartungen an Service und vieles mehr.

Wenn wir bessere Ergebnisse in unseren sozialen Hilfesystemen erzielen wollen, müssen wir sie neu aufstellen.

Also kann das neue Buch als eine Art Fortführung Ihrer bisherigen Forschungen betrachtet werden?
Genau. Vor 14 Jahren habe ich meine Forschung für Menschen mit intellektueller und sprachlicher Beeinträchtigung und einem sehr hohen Unterstützungsbedarf begonnen. Im Fokus standen Personenkreise, die dauerhaft auf Hilfeleistungen angewiesen sind – häufig über die gesamte Lebensspanne. Diese Personen arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigungen und leben in Wohngemeinschaften der Eingliederungshilfe und waren umfassend vom Hilfesystem Eingliederungshilfe abhängig.

Mein Ziel ist weiterhin, dass dieser Personenkreis genau die Leistungen erhält, die im individuellen Fall tatsächlich gebraucht und gewollt sind, um ein selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft selbst gestalten zu können.

Wie genau soll das gelingen?
Ich habe ein Verfahren zur Realisierung von Selbstbestimmung und zur Überprüfung von Wirkung entwickelt und in der Praxis erprobt. Die im Buch beschriebenen zehn Prinzipien zeigen auf, wie dieses Verfahren umgesetzt werden kann und wie uns gelingt, die Qualität der Leistungen messbar zu verbessern und die Kosten zu senken.

Menschen mit Beeinträchtigung sollen so viel Selbst-Entscheiden können wie möglich. Und: Alles, was nicht dazu beiträgt, das Selbst-Tun und das Selbst-Entscheiden auch in den kleinen Dingen des Alltags zu fördern, also das, was nichts bringt, wird weggelassen.

Endlich Ärmel hochkrempeln und anfangen, rät Dr. Tanja Heitling, wenn es um die Neuaufstellung der sozialen Hilfesysteme geht.

Foto: Privat

Was sind die Erfolgsfaktoren?
Erstens braucht es eine neue Art der Zusammenarbeit zwischen Leistungsanbietern wie der Lebenshilfe und den Kostenträgern, also politischen Akteuren und Institutionen wie dem Landkreis oder der Agentur für Arbeit. Zweitens braucht es eine neue Berufsgruppe: die Analysten. Sie ermitteln die Bedarfe jeder Person individuell in einer Zeitraum-Analyse. Außerdem braucht es die engagierte Mitwirkung der Eltern und Angehörigen, um die Selbständigkeit und damit die Unabhängigkeit von Hilfe und vom System zu fördern.

Was es aber am meisten braucht, ist die Entscheidung, jetzt gemeinsam zu handeln – Politik, Leistungsanbieter, Angehörige, Kostenträger, Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger. Es braucht nicht den großen Wurf, sondern nur das Ärmelhochkrempeln und das Anfangen.

Wie geht es jetzt weiter?
Ich bin mit Politikerinnen und Politikern auf Bundesebene und Länderebene im Gespräch, um für die notwendigen Veränderungen zu werben und zu beraten. Ich halte Vorträge und suche bundesweit Unterstützer, um das System Eingliederungshilfe zu verändern und stark zu machen für die Zukunft.

Gleichzeitig arbeite ich an dem Thema, wie die Systeme Medizin, Pflege und Eingliederungshilfe enger und besser zusammenarbeiten können, immer mit dem Ziel eines ganzheitlichen Gesundheitssystems, das auch zukünftig noch finanziert werden kann.

Neue Strukturen für unsere Hilfesysteme

Dr. Tanja Heitling: Soziale Hilfesysteme erfolgreich neu aufstellen, 129 Seiten, Verlag Kohlhammer, 29 Euro, ISBN 978-3-17-045508-5, shop.kohlhammer.de


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