KURT vor Ort

So spannend ist unsere eigene Geschichte: KURT-Detektivin Jule Otto schnüffelt durch die Archive der Stadt Gifhorn und der Diakonie Kästorf

Jule Otto Veröffentlicht am 29.03.2024
So spannend ist unsere eigene Geschichte: KURT-Detektivin Jule Otto schnüffelt durch die Archive der Stadt Gifhorn und der Diakonie Kästorf

Ganz vorsichtig und nur mit blauen Schutzhandschuhen erkundet Jule Otto die historischen Unterlagen in Gifhorns Stadtarchiv.

Foto: Michael Uhmeyer

Urkunden, Zeugnisse, historische Fotografien und Dokumente – alles gespeichert in den Archiven unserer Region. Um ungewohnte Einblicke in ihre Archivalien zu gewähren, öffnen sie alle zwei Jahre ihre Türen. An diesem bundesweiten Tag der Archive dreht sich alles um ein bestimmtes Thema – in diesem Jahr: Essen und Trinken. KURT-Mitarbeiterin Jule Otto war dabei. Sie tauchte erst ins Archiv der Diakonie in Kästorf ein, danach ins Gifhorner Stadtarchiv – um mehr über uns alle und unsere Geschichte zu erfahren.

Regale voller Kartons und Akten, alte Bilder, Karten, Unmengen an Papier – und alles so alt und fragil, dass man es nur mit Handschuhen berühren darf. Das ist das Bild, das mir in den Kopf kommt, wenn ich an Archive denke. Ziemlich klischeehaft vermutlich, aber wie soll ich es denn besser wissen? Ich habe schließlich noch nie eines besucht.

Umso mehr habe ich mich auf den Tag der Archive Anfang März gefreut. Ich kann zwar nicht sicher sein, dass alle Informationen, die ich gesammelt habe, vollständig sind und vielleicht habe ich auch etwas nicht ganz richtig einordnen können. Dennoch ist in meinem Kopf ein Bild entstanden – eine Geschichte, wie es früher hier bei uns wohl einmal gewesen sein könnte.

Mein erstes Ziel: die Dachstiftung Diakonie in Kästorf. Beim Eintreten fühle ich mich ein bisschen unsicher. Auf den Tischen entdecke ich sofort Papiere und Bilder, die unverkennbar aus einem echten Archiv stammen. Natürlich weiß ich, dass auch ältere Papiere nicht einfach so kaputt gehen – gerade die Ausstellungsstücke, denn die sind schließlich speziell ausgewählt worden. Trotzdem traue ich mich zunächst nicht, mir etwas genauer anzusehen – oder gar anzufassen.

Zum Glück kommen gleich der Historiker Dr. Steffen Meyer und Katharina Gries auf mich zu. Die beiden arbeiten in der Historischen Kommunikation der Dachstiftung Diakonie und haben die Ausstellung vorbereitet. Auf das über allem stehende Thema des Tages ist hier ganz anders eingegangen worden, als ich es erwartet hätte: Statt alte Rezepte, Speisekarten oder Küchenpläne zu zeigen, wird hier die Geschichte der Einrichtung erzählt.

Zahlreiche historische Broschüren wurden beim Tag der Archive in der Dachstiftung Diakonie in Kästorf ausgestellt.

Foto: Jule Otto

Auf einem Tisch finde ich Originaldokumente mit dem Hinweis „Bitte nicht berühren“. Hier stoße ich auch auf das erste Bild, das von der Einrichtung existiert. Es wurde wohl in einem alten, schimmligen Bilderrahmen gefunden und zeigt das Gelände zu Beginn des Jahres 1883. Damals wurden die Fachwerkhäuser und Ländereien gerade zur Zuflucht für wohnungs- und arbeitslose Männer, die so genannten Kolonisten.

Bisher hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, dass es auch vor mehr als 200 Jahren schon Probleme mit Wohnungs- und Arbeitslosigkeit gegeben haben könnte. Umso wichtiger war dann die Eröff-nung von Gutshöfen für diese Menschen, wie hier in Kästorf. Gerade später, um die Weltkriege herum, gab es sicherlich auch jede Menge Frauen, die auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf waren. Die Einrichtung der Diakonie war allerdings nur für Männer.

Gelebt haben sie aus reiner Selbstversorgung: Das umliegende Ackerland wurde urbar gemacht, Getreide und Kartoffeln wurden angebaut, Tiere in den Ställen gehalten und aus den Erzeugnissen Brot, Käse, Butter und alles sonst Lebensnotwendige selbst hergestellt.

Der nationalsozialistische „Bund zur Bekämpfung der Tabakgefahren“ nannte auf einem Flugblatt zehn Gründe gegens Rauchen.

Foto: Jule Otto

Als sich um 1900 das Gesetz zum Kinderschutz änderte, kamen neben den Arbeitssuchenden auch Jungen auf dem Gut unter. Zu ihrem eigenen Schutz wurden sie wohl damals aus ihren Familien genommen und fanden hier in Kästorf Unterbringung. Viele von ihnen lernten dort ebenfalls die Landwirtschaft kennen und arbeiteten später als Erwachsene auf Höfen in umliegenden Dörfern.

Im Laufe der Zeit wurde außerdem eine Trinkerheilstätte auf dem Gelände eingerichtet. Diese entsprach wohl nicht den heutigen Vorstellungen einer Entzugsklinik. Die Unterschiede zu Kur- und Reha-Einrichtungen, wie man sie heute kennt, waren allerdings gar nicht so groß.

Zu Anfang lautete die Herangehensweise hier: kalter Entzug – kein Tropfen Alkohol war mehr erlaubt. Später wurde klar, dass auch das dem Körper schaden könnte. Nun wurde die Entwöhnung zum Behandlungsansatz.

Eine professionelle Verhaltens- und Psychotherapie, wie sie heute üblich ist, kann ich mir dennoch schwer vorstellen. Die Grundidee schien jedoch ähnlich zu sein: Da die Heilstätte in Kästorf von der Diakonie betrieben wurde, stand nicht nur die körperliche, sondern eben auch die seelische Gesundheit im Fokus. Dabei wurde in der Behandlung auch auf die Hintergründe der Probleme eingegangen und eine mögliche Umstrukturierung des Alltags erarbeitet, so wie wir es auch heute in einer Kur erwarten dürften.

Die Dachstiftung Diakonie stellt in Kästorf auch alte Gerätschaften aus, welche die Bewohner bei der Selbstversorgung nutzten.

Foto: Jule Otto

Das übliche Problem der Finanzierung war damals vielleicht noch präsenter als heute. Auch wenn es schon Krankenkassen gab, so haben diese keine Kosten für die Heilanstalt übernommen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt Alkoholismus nicht als Krankheit und so musste eine Behandlung vom Patienten aus eigener Tasche gezahlt werden. Sicher hätten auch viele frühere Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg vertrauensvolle Hilfe mit dem Alkoholumgang gebraucht. Doch wer es sich nicht leisten konnte, der blieb auf sich allein gestellt.

Die Landwirtschaft, bei der auch die Patienten der Trinkerheilstätte anpacken mussten, versorgte damals die gesamte Einrichtung. Die große Menge an Rohstoffen, die benötigt wurde, kann ich mir nur schwer vorstellen. Beim Erkunden der Ausstellung lese ich, dass die Bewohner an einem Tag rund 1400 Scheiben Brot geschmiert haben. Auf weniger als 50 Brote kommt man da wohl kaum – und aus meiner eigenen Backerfahrung kann ich da nur von kiloweise Mehlbedarf ausgehen. Und das für jeden einzelnen Tag.

Statt Frischkäse oder Butter wurden die Stullen mit Grieß auf einer dünnen Schicht Le-berwurst serviert. Geschmacklich wäre das – glaube ich – gar nicht meins, aber praktisch war es sicherlich, um den Kalorienbedarf auf sparsame Art und Weise zu decken.

Auch unter anderen Besucherinnen und Besuchern schnappe ich Gespräche über den früheren Brotbelag auf. Nach und nach hat sich das Archiv gefüllt und neben mir stöbert eine begeisterte Hobbyhistorikerin durch die Archivalien. Besonders beliebt, so merke ich jetzt, scheint der Tag als Treffpunkt für ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie zu sein. Es werden Geschichten erzählt, Umbaumaßnahmen diskutiert und alte Bilder und Zeitungsausschnitte ausgetauscht.

Eines der ersten Bilder der Diakonie in Kästorf: Die Häuser und Ländereien wurden zur Zuflucht für wohnungslose Menschen.

Foto: Jule Otto

Bevor ich gehe, zeigt mir Steffen Meyer noch das Magazin des Archivs. Ein altes Pflegehaus wurde vor einigen Jahren umgebaut und ist jetzt Heimat hunderter Papierakten. Einige noch unsortiert in Originalordnern, die meisten aber fein säuberlich datiert und geordnet in säurefreien Mappen und Kartons verstaut. Jedes Regal reicht bis zur Decke und ist zentimetergenau aufgestellt worden. Effiziente Platznutzung ist hier das A und O. Fast genauso wichtig ist das richtige Raumklima: Gerade ältere Akten sind sehr empfindlich, was Temperatur und Luftfeuchtigkeit angeht, und so hängen in jedem Raum Thermometer mit eingebauter Feuchtigkeitsmessung.

Für mich geht es jetzt weiter in die Gifhorner Innenstadt. Das Stadtarchiv ist dort im einstigen Rathaus untergebracht, die Ausstellung zum Tag der Archive findet im Großen Festsaal statt. Schon beim Eintreten sehe ich alte Bücher, Akten, Fotoalben und Flyer: Bierbrauen, Lebensmittelversorgung im Krieg, Gifhorner Lebensmittelkonzerne – jeder Tisch befasst sich mit einem anderen Thema.

Im hinteren Teil des Raums finde ich außerdem einen Bücherbasar mit vielen Schriften über Gifhorn und seine Geschichte. Mein kurzes Gespräch mit Stadtarchivarin Heike Klaus-Nelles wird von einem begeisterten Heimatforscher unterbrochen, der gleich 14 Exemplare für seine hauseigene Sammlung kauft.

Direkt am ersten Ausstellungstisch bleibe ich hängen. Schulspeisung steht auf der Akte vor mir. Heute ist es für mich fast selbstverständlich, in der Schulmensa zu essen. Und fast genauso selbstverständlich ist es, dass sich die Schülerinnen und Schüler, egal von welcher Schule sie kommen, gerne über das Essen beschweren: Der Preis sei zu hoch, die Portionen zu klein, das Essen nicht richtig gewürzt oder der Speiseplan nicht abwechslungsreich genug. Was ich nicht schon alles gehört habe...

1947 hingegen war das Konzept der Essensausgabe in Schulen ganz neu. Beispielen aus Wittingen oder Wolfsburg folgend beschloss auch die Stadt Gifhorn, warme Mahl-zeiten in der Schule anzubieten. Zuerst galt das Angebot nur für Bedürftige. Nach einer medizinischen Untersuchung wurden 180 Gifhorner Kinder ausgewählt, um als erste in unserer Stadt an der so genannten Hoover-Speisung teilzunehmen; benannt nach dem 31. US-Präsidenten Herbert Clark Hoover, der sich für die Einführung der Schulspeisung in der Bizone einsetzte, die letztlich mehr als sechs Millionen Deutschen zugutekam.

Zu Beginn war mit einem Preis von einer halben Reichsmark pro Woche und Kind gerechnet worden. Die Kosten für das Besorgen der Lebensmittel, das Personal und auch Ressourcen wie Energie und Wasser konnten davon allein aber bei weitem nicht gedeckt werden. Nach einigen Überlegungen wurde unter den Gifhornerinnen und Gifhornern nach Paten gesucht. Diese zahlten dann jede Woche drei D-Mark, was vor der Währungsreform 30 Reichsmark gewesen wären. Eine Patenschaft ermöglichte die tägliche Ausgabe einer warmen Mahlzeit für ein Schulkind, erfahre ich in der Ausstellung des Stadtarchivs.

Im Magazin des Gifhorner Stadtarchivs sind die Akten in meterlangen Regalen sortiert – kein Vergleich zu Jules Mappenführung.

Foto: Michael Uhmeyer

Der Speiseplan war simpel, kostengünstig und trotzdem möglichst abwechslungsreich gestaltet. Oft gab es Suppe – Erbsensuppe, Reissuppe oder Nudelsuppe – mit Konservenfleisch. Viele Zutaten, darunter auch Milch und Zwiebeln, wurden nicht frisch in die Küchen geliefert, sondern in Form von Trockenpulver. Besonders auffällig finde ich die Simplizität der Rezepte. Kaum ein Gericht brauchte mehr als vier oder fünf Zutaten. Aufregende Gewürze? Fehlanzeige. Lediglich Salz fand Verwendung.

Die Praktikabilität von Suppe ist mir klar: Sie lässt sich recht einfach und vor allem günstig in großen Mengen kochen. Trotzdem bin ich, und wahrscheinlich auch alle anderen Schülerinnen und Schüler, heilfroh, dass es an meiner Schule heute nicht jeden Tag Linseneintopf gibt. Der ist zwar gar nicht schlecht, aber Spaghetti mit Hackbällchen, Gemüselasagne und Reispfanne kommen da doch deutlich besser an.

Um den Kindern auch Essen für die Seele zu geben, standen bei der Schulspeisung auch regelmäßig süße Speisen auf dem Plan. Neben Milchreis oder Grießbrei gab es oft Kakao-Milch mit eingetunktem Brötchen, was ich ehrlich gesagt eine ziemlich kreative Idee finde. An einigen Tagen gab es auch ein Stück Schokolade und als Geschenk zu Weihnachten holländischen Butterkäse.

Durch die restliche Ausstellung streife ich eher nur durch. Die Themen und Erklärtexte klingen zwar alle wahnsinnig spannend, doch ehrlich gesagt kann ich bei vielen Archivalien gar nicht so recht sagen, was genau ich gerade vor mir habe. Die Akte zur Schulspeisung war leicht verständlich – das meiste darin sind offizielle Dokumente mit der Schreibmaschine getippt. Viele der anderen ausgestellten Rechnungen oder Beschlüsse, die teilweise sogar aus dem Mittelalter stammen, sehen zwar sehr ästhetisch aus, ich kann sie aber bei bestem Willen nicht lesen.

Hier geht es mir viel mehr um die Erfahrung: Die alten Papiere und Dokumente schreien förmlich Archiv und das Gefühl, durch die alten Akten zu stöbern, ist einfach aufregend. Da fast ausschließlich Originaldokumente ausgestellt sind, müssen zum Durchschauen blaue Einweghandschuhe getragen werden. Dadurch fühle ich mich richtig wichtig – wie eine Detektivin beim Verfolgen einer Spur.

Auch die anderen Besucherinnen und Besucher sind vertieft in die Ausstellungsstücke. Besonders beliebt sind die alten Fotoalben. Sie zeigen vor allem Gebäude der Gifhorner Innenstadt. Wer selbst in Gifhorn lebt, kann hier also schnell über Bilder von der eigenen Haustür stolpern.

Das Archiv hat viel über Gifhorn und seine Einwohner zu erzählen. Persönliche Daten werden natürlich nicht am Tag der offenen Tür ausgestellt, doch wer sich für die eigene Familien- oder Herkunftsgeschichte interessiert, der kann auch auf eigene Faust in den Archivalien stöbern. Jeder hat das Recht, Einsicht in bestimmte Akten zu erhalten. Zu einem abgesprochenen Termin kann man dann in einem kleinen Raum durch Besitzurkunden, Zeitungsartikel und Schulabschlüsse von Familienmitgliedern stöbern – natürlich mit den blauen Handschuhen, versteht sich.

Auch im Stadtarchiv darf ich mir noch das Magazin anschauen. Wie in Kästorf sind die Schränke hier bis oben hin voll mit Kartons. Lara Stiller zeigt mir, dass auch hier noch nicht alle Akten neu angelegt sind, also entsäuert und sortiert wurden. Trotzdem kann von Unordnung wirklich nicht die Rede sein. Wenn ich so an meine Mappenführung für die Schule denke, bin ich beeindruckt, wie ordentlich alles sortiert ist. Das müssen Tausende von Blättern sein – alle fein säuberlich in Kisten nach Datum und Inhalt sortiert.

Als ich das Stadtarchiv am Nachmittag verlasse, bin ich positiv überrascht. Niemals hätte ich gedacht, dass mich die Ausstellungen der beiden Archive so berühren. Ich lerne gerne etwas über die Vergangenheit – egal ob beim Lesen von Büchern oder in Museen. Doch selbst auf die Suche zu gehen und die Akten, Papiere und Bilder in die eigene Hand zu nehmen, erweckt die Geschichte irgendwie auf eine ganz andere Art zum Leben.

Historische Kommunikation der Dachstiftung Diakonie
Hauptstraße 51, Kästorf
Tel. 05371-721212
dachstiftung-diakonie.de

Stadtarchiv Gifhorn
Cardenap 1, Gifhorn
Mo. & Mi. 8.30 bis 12 Uhr
Di. 14 bis 17 Uhr
Tel. 05371-932154
[email protected]


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