Kopfüber-Kolumne

Pulsierende Adern, Nazi-Straßen und Wortmeldungen wie auf Koks - Ein langer Abend in Gifhorns Stadtrat

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 01.11.2020
Pulsierende Adern, Nazi-Straßen und Wortmeldungen wie auf Koks - Ein langer Abend in Gifhorns Stadtrat

Manche Wortmeldungen im Gifhorner Stadtrat wirken wie auf Koks: Hybris und Redseligkeit reichen sich die Hand.

Foto: Fotolia (Symbolfoto)

„So etwas lässt sich unsere Fraktion nicht gefallen!“, wütet ein SPD-Politiker in der Gifhorner Stadthalle. Auf der Stirn pulsiert eine Ader, das kann sogar ich von meinem Besucherplatz aus sehen. Hochrot ist der Kopf. Kurz zuvor gab es eine Anschuldigung aus den Reihen der CDU, das berühmte Wer-frei-von-Sünde-ist-Zitat aus der Bibel etwas umformuliert und völlig deplatziert, so als hätte der Redner einmal zu selten von seinem Tablet in Leder-Case aufgeschaut. Einzelne Kollegen schlagen die Hand vors Gesicht. Auch wenn ich nur den Rücken des drahtigen Konservativen sehen kann, sagt seine Körpersprache: Hätte ich bloß mal meinen Mund gehalten.

In der Stadtratssitzung geht‘s um die Unbenennung der sogenannten Nazi-Straßen. Verdiente Gifhorner Politiker, deren NSDAP-Vergangenheiten durchleuchtet wurden, müssen nun posthum um ihre Belobigungen fürchten. Und dann, nur durch diesen Satz, diesen einen unverbesserlichen Vergleich, der hinkt und stolpert und fällt, wird es hitzig.

Ich finde das ganz toll, und nachdem stundenlang die Themen ziemlich sachlich abgehandelt, viele Abstimmungen per Handzeichen im Protokoll notiert und Themenvorschläge zugelassen wurden, wird die Luft buchstäblich dünn im Großen Saal. Demokratie live!

Es hat tatsächlich viel von Bundestag, was in der Stadthalle passiert. Seitdem die Ratssitzungen aus Corona-Gründen verlegt wurden, sprechen alle vom Pult aus. Wenn der riesige Dr. Frank Bühren von der CDU an der Reihe ist, muss er das Mikro nach oben biegen. Das macht dann ganz Soundcheck-artige Bass-Töne. Leidtragende ist die Grüne Nicole Wockenfuß, die Mal um Mal neujustieren muss. Dann setzt sie aber zu einem Rundumschlag an, gegen dies und das, für das eigene Hier und Jetzt. Sie ist eine gute Rednerin und unterscheidet sich von vielen ihrer Kolleg*innen in dem Punkt, dass sie das wirklich interessiert, was sie sagt.

Unerträglich ist die AfD, die sich scheinbar in allen Themenbereichen auskennt und Debatten stets in die Inhaltslosigkeit führt. Redet sie frei und ohne Notizen, haben die Sätze eine auffällige Demenz. Sie sind halb, durchlöchert und faserig, die Intonation ist trotzdem bedeutungsschwanger und damit sehr, sehr peinlich. Die Wortmeldungen der AfD wirken wie auf Koks: Hybris und Redseligkeit reichen sich die Hand.

Dennoch ist es wichtig, dass auch die Grenzrechten etwas sagen dürfen. Einstimmig sind die Abstimmungen aber selten, denn niemand will wirklich kumpeln mit der Agitation. Wenn ein Vorschlag der AfD ausnahmsweise doch einmal einem klugen Gedanken entsprungen scheint, wird er trotzdem abgewimmelt – und ein, zwei Jahre später womöglich von einer anderen Fraktion wieder eingebracht. Und wenn die AfD dann sogar noch etwas Schlaues dazu sagt – wie im Hinblick auf ein Online-Portal, das den Bürgerinnen und Bürgern für Tipps und Kritik zur Verfügung gestellt werden soll –, wird das abgetan. Eine Art demokratischer Ehrenkodex, dessen grundlegendes Problem es ist, antidemokratisch zu sein. Sich der Diskussion und der guten Idee zu verweigern, mit der Befürchtung, man würde einzig und allein einem Vorschlag der Rechtspopulisten folgen und eben nicht seinem eigenen Wesen, schwächt das politische System und seine Diskursabhängigkeit. Gleichermaßen ist es nachzuvollziehen, dass man die AfD nicht in den Kreis der bürgerlichen Parteien holen möchte, um sie damit indirekt willkommen zu heißen. Bei einem Schäferstündchen mit der Partei der Schießbefehlbefürworter fängt man sich Krankheiten ein.

Wie man es auch dreht und wendet: Der Besuch einer Stadtratssitzung in Gifhorn sagt mehr über unseren gesellschaftlichen Stand aus, als man denkt. Und auch hier gilt wie immer: Wir können später nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst.


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