Kopfüber
Man findet Gefallen an Tränen: Unser Kolumnist Malte Schönfeld erklärt, was er so am Wrestling liebt
Malte Schönfeld Veröffentlicht am 13.04.2025
Als unser Redaktionsleiter Malte Schönfeld vor Kurzem das Wrestling-Turnier 16 Carat Gold der wXw besuchte, kam ihm der Gedanke, unbedingt über seine Leidenschaft Wrestling schreiben zu müssen.
Foto: KURT Media via Dall-E
Wie ein Donnerschlag rollt ein tiefes Krachen durch die Halle bis in die letzte Reihe. Zwei Männer – am Ende ihrer Kräfte – stehen sich gegenüber, nein, liegen, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Der Blondierte in der strahlenden Hose hatte den Schnurrbart-Träger ausgehebelt und mit letzter Kraft auf die Matte geschleudert. Im weißen Scheinwerferlicht, das den Ring wie eine Lichtung erhellt, die in einem dunklen Wald liegt, kann man die Schweißperlen auf den geschundenen Körpern fast einzeln zählen. Blutige Schmarren scheinen durch provisorisch um den Rücken gewickelte Mullbinden. Keiner der beiden kann sich wirklich auf den Beinen halten. Im Publikum sitzt niemand mehr auf seinem Stuhl, alle stehen auf Zehenspitzen.
„Die Stärke des Catchens ist es, ein übersteigertes Schauspiel zu sein. Man findet darin eine Emphase, wie sie in den antiken Theatern geherrscht haben dürfte.“
Das sind die erste Worte im Essay „Die Welt des Catchens“ von Roland Barthes. Der französische Kulturtheoretiker schrieb diesen Text Mitte der 50er Jahre, er ist die Eröffnung im Band „Mythen des Alltags“. Unterhaltsam-kritische Überlegungen zum Citroën DS als eine Art modernes religiöses Artefakt, zu Steak und Pommes frites als nationale Symbole für Bodenständigkeit und Männlichkeit oder der Projektionsfläche von Marsmenschen schließen sich an.
Im Wrestling – oder wie Barthes es nannte: Catchen – geht es um das Geschichtenerzählen. Sport, Schauspiel, Rhetorik, Mode, Musik und Video laufen in einem unheimlich reichen Punkt zusammen, einer Kunstform, die sich überall auf der Welt entwickelt und faszinierende Eigenarten ausgeprägt hat.
Auf dem Live-Event, das ich besucht habe, tritt jeder Wrestler, jede Wrestlerin mit Einlaufmusik ein, die von den Fans nach einem Ton erkannt und frenetisch gesungen wird. Applaus und Abklatschen für die Guten, Mittelfinger und Buhrufe für die Bösen. Doch es gibt auch die Charaktere, die dazwischen liegen, die Tweener, und mit ihnen ist es komplizierter. Sie sind gebrochene Charaktere, Figuren wie aus einem Shakespeare-Stück. Gerechtigkeit, verschobene Moral, Skrupel, sanfter Neid und nachvollziehbare Rachegelüste, darum geht‘s.
Nur diejenigen, die eine Figur darstellen, können überleben; wer nur kommt, um seine Athletik zur Schau zu stellen, fristet eine kurze Karriere im Wrestling. Flamboyante Schwäne, Cowboys, maskierte Clowns – Du brauchst ein Rolle, und jede Rolle kann gut sein oder böse. Die Handlungen und die Worte bestimmen Deine Gesinnung, Erwartungen des aufmerksamen Publikums werden unterlaufen oder gar gesprengt.
„Beim Catchen wie auf den antiken Bühnen schämt man sich nicht seines Schmerzes, man versteht zu weinen, findet Gefallen an Tränen“, schrieb Roland Barthes. Das Schauspielspektakel ist nur so gut, wie es das erlebnishungrige Publikum überzeugen kann. Und wie in jedem dramatischen Theaterstück können auch im Wrestling die Figuren die echte, komplexe Welt außerhalb des Rings durch Verkleinerung so reizvoll erklären, dass sie plötzlich verständlicher wird.
Wrestling. Ein Amphitheater für Helden und Bösewichte. Bloß Geschichten über Liebe, Schmerz und die Hoffnung, dass alles gut wird.