Stolpersteine

Geboren in Gifhorn, ermordet in Auschwitz: Ein Stolperstein erinnert an die Jüdin Alice Nathansohn

Annette Redeker Veröffentlicht am 24.08.2022
Geboren in Gifhorn, ermordet in Auschwitz: Ein Stolperstein erinnert an die Jüdin Alice Nathansohn

Das Foto, das eine ihrer Nachkommen in Händen hält, zeigt Alice Nathansohn vor ihrem Wohnhaus in Hannover.

Foto: Mel Rangel

Die Jüdin Alice Frieda Nathansohn wird 1880 in Gifhorn geboren, ihre ersten Lebensjahre verbringt sie in der Torstraße 3. Nach der Machtübernahme der Nazis flüchten Alice und ihr Mann in die Niederlande, sie werden deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet. Nun erinnert einer von insgesamt neun Stolpersteinen in Gifhorn an Alice Frieda Nathansohn. Die ganze Geschichte legt Annette Redeker, Autorin des Buches „Der jüdische Friedhof in Gifhorn – Geschichte, Dokumentation, Spurensuche“, in einem Gastbeitrag vor.

Alice Frieda Nathansohn wurde am 1. Dezember 1880 im Hause ihrer Eltern Julius und Elise (geb. Bachrach) Friedberg in Gifhorn geboren. Zum Zeitpunkt der Geburt von Alice Nathansohn war Gifhorn eine überschaubare Kleinstadt mit etwa 3000 Einwohnern.

Es existierte eine kleine jüdische Gemeinde, deren Mitglieder gut in der Stadt integriert waren. Auch die Familie Friedberg lebte seit mehreren Generationen in diesem städtischen Umfeld. Alice verbrachte ihre ersten Lebensjahre in der Torstraße Nr. 3, 1882 und 1885 wurden dort auch ihre Brüder Henri und Paul geboren. Diese verstarben bereits im Kindesalter. Sie sind neben ihren Großeltern auf dem jüdischen Friedhof in Gifhorn beigesetzt.

Der Vater von Alice, Julius Friedberg, war Kaufmann und engagierte sich sowohl in der Synagogengemeinde als Vorsteher derselben als auch im Städtischen Kollegium. Zunächst war er Bürgervorsteher. 1878 wurde er ehrenamtlicher Senator der Stadt Gifhorn und war dadurch entscheidend mitverantwortlich für die Geschicke seiner Heimatstadt. Damit war er der erste Jude in der gesamten Provinz Hannover, der ein derartiges Amt in einer Stadt bekleidete. Trotzdem verließ er in den 1890er Jahren wahrscheinlich aus wirtschaftlichen Gründen Gifhorn und verzog nach Hannover. Ende des 19. Jahrhunderts bot Hannover jüdischen Mitbürgern besonders im kaufmännischen Bereich gute Verdienstmöglichkeiten und so strömten viele Juden auch aus dem direkten Umland nach Hannover.

Am 23. Mai 1905 heiratete Alice Friedberg in Hannover Martin Nathansohn, der einer jüdischen Familie aus Groß Rhüden bei Seesen entstammte. Am 7. März 1906 wurde ihre Tochter Ilse und am 28. Mai 1909 ihr Sohn Fritz geboren.

Als Mitinhaber des Bankhauses Nathansohn & Stern ging es Martin Nathansohn und Familie wirtschaftlich sehr gut. Wohnadressen in bester Lage nahe des Hannoverschen Stadtparks Eilenriede dokumentierten den Wohlstand. Doch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verschlechterte sich die Einkommenssituation sukzessive.

Alice Frieda Nathansohn und ihr Ehemann Martin: Sie stammte aus Gifhorn und wurde später in Auschwitz ermordert.

Foto: Sammlung Peter Frankenberg

Außer dem Umsatzrückgang der Bank lieferte der Kontakt mit ihren inzwischen in den Niederlanden lebenden Kindern einen Vorwand für finanzielle Restriktionen durch den NS-Staat, um die Mitnahme von Kapital bei einer möglichen Emigration zu verhindern. Ab Ende 1938 wurde vom Staat die Liquidation der Bank betrieben und den Nathansohns jeglicher finanzieller Handlungsspielraum genommen. Zwangsläufig entschied sich das Ehepaar, am 14. März 1939 in die Niederlande zu emigrieren, zunächst nach Leiden, wo bereits seit den frühen 1930er Jahren ihr Sohn Fritz lebte. Von ihrem Vermögen durften sie nur einen Teil zur Zahlung der Reichsfluchtsteuer und sonstiger willkürlicher Verbindlichkeiten des Staates verwenden. Dem Mitinhaber des Bankhauses Nathansohn und Stern, Jakob Stern, gelang zusammen mit seiner Familie die Flucht nach Südafrika.

Wie die Nathansohns emigrierten einige Zehntausend Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in die Niederlande. Bei der Wahl des Ziellandes spielte die Nähe von Sprache und Kultur zur deutschen Herkunft dabei häufig eine entscheidende Rolle. Aber auch die Hoffnung auf eine weitergehende Emigration nach Großbritannien oder in die USA ließen eine Flucht in die Niederlande als ratsam erscheinen. Die Situation der Flüchtlinge war oftmals schwierig und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft war wie in vielen anderen Staaten nicht immer gegeben.
Als Reaktion auf die Flüchtlingsströme wurde im Herbst 1939 das Flüchtlingslager Westerbork eingerichtet. Mit der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 war die Sicherheit der Geflüchteten dort nicht mehr gewährleistet.

Obwohl längst nicht mehr dort ansässig, strengten die Behörden in Hannover ein Ausbürgerungsverfahren gegen die Familie Nathansohn an, wodurch diese staatenlos wurden. Wovon Martin und Alice ihren Lebensunterhalt zum damaligen Zeitpunkt bestritten, ist im Einzelnen nicht mehr rekonstruierbar. Mit dem Einmarsch der Deutschen in die Niederlande verschlechterte sich ihre Lage aber wohl zusehends.

Ab dem Sommer 1942 begannen die Deportationen aus den Niederlanden. Das Lager Westerbork diente dabei als Durchgangslager, aus dem zwei Mal pro Woche Züge in Richtung der Vernichtungslager starteten. Juden mussten auch in den Niederlanden einen gelben Stern tragen, Meldeaufrufen musste Folge geleistet werden, bei Weigerung erfolgten Verhaftungen in Wohnungen oder bei durchgeführten Razzien. Insgesamt wurden mehr als hunderttausend jüdische Mitbürger ab Westerbork deportiert.

Dieser Stolperstein vor der Gifhorner Torstraße 3 erinnert an Alice Nathansohn, die dort ihre ersten Lebensjahre verbrachte.

Foto: Mel Rangel

Bereits im September 1942 erhielt das Ehepaar Nathansohn an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort in Amsterdam die Aufforderung, sich in Westerbork einzufinden. Ohne Chance auf ein Versteck oder eine weitere Flucht leisteten sie der Anweisung Folge und meldeten sich am 17. September im Lager Westerbork. Am 18. September 1942 verließ der Zug den niederländischen Bahnhof Hooghalen und nach zweitägiger Fahrzeit kamen die Nathansohns mit 1002 Leidensgenossen am 20. September 1942 im Lager Auschwitz an. Aufgrund ihres Alters wurden Alice Nathansohn und ihr Mann wahrscheinlich als nicht arbeitstauglich eingestuft und bereits kurz nach Erreichen des Lagers umgebracht. Später wurde der 21. September 1942 als Tag ihres Todes festgesetzt.

Alices Sohn Fritz wurde ebenfalls Opfer des Holocaust. Er wurde zunächst in Westerbork inhaftiert und am 30. März 1943 ins Vernichtungslager Sobibor in Polen deportiert und dort umgebracht. Nur Alices Tochter Ilse konnte der Verfolgung entkommen. In getrennten Verstecken überlebten sie, ihr Mann und ihre beiden Kinder die deutsche Besatzung. Nach Kriegsende blieb sie in den Niederlanden und starb dort 1988.

Nachfahren von Alice und Martin Nathansohn wohnen noch heute in den Niederlanden und halten das Andenken an ihre Urgroßeltern lebendig. Eine Spardose mit der Aufschrift „Gifhorn“, die Alice einst als Kind bekommen hatte, wird in der Familie als Reliquie von Generation zu Generation weitervererbt. Wenn im Familienkreis über das Schicksal von Alice und Martin erzählt wird, kommen noch heute ihr unerschütterlicher Optimismus und ihre aufrechte Haltung selbst in den ausweglosesten Situationen zur Sprache.

Alice Frieda Nathansohns Lebensgeschichte steht beispielhaft für die der jüdischen Mitbürger, die in Gifhorn geboren sind und später an anderen Orten verfolgt worden sind.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in Gifhorn“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv und in der Stadtbücherei.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


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