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Corona-Regeln: Darum droht mehr Menschen der Kältetod - Die Obdachlosen-Hilfe im Moin, Moin in Gifhorn erklärt, wie es jetzt weitergeht

Bastian Till Nowak Veröffentlicht am 27.10.2020
Corona-Regeln: Darum droht mehr Menschen der Kältetod - Die Obdachlosen-Hilfe im Moin, Moin in Gifhorn erklärt, wie es jetzt weitergeht

Hansi (55) ist seit zehn Jahren in Gifhorn – und seit 38 Jahren schon auf der Straße. Er lebt zurzeit in der Notunterkunft am Kiebitzweg und er ist regelmäßiger Gast im „Moin, Moin“. Denn: „Das Essen schmeckt.

Foto: Çağla Canıdar

Wie ergeht es eigentlich den obdachlosen Menschen in der Corona-Pandemie? Ein Besuch im Tagestreff „Moin, Moin“ an der Braunschweiger Straße in Gifhorn liefert Antworten. Die Arbeit dort geht – wenn auch mit Einschränkungen – beinahe weiter wie gehabt. Was Sandra Brünger, Regionalleiterin in der Wohnungslosenhilfe der Diakonie, jedoch große Sorgen bereitet, sind die kommenden Monate: „Ich fürchte, dass es im Herbst und Winter mehr Kältetote geben wird.“ Doch warum sollten in Zeiten der Pandemie mehr Menschen nachts auf den Straßen erfrieren, als in all den Jahren zuvor? „Weil seit Beginn der Corona-Einschränkungen keine Neuen mehr ins Obdach aufgenommen werden.“

Zwar gebe es für jeden Menschen einen Rechtsanspruch auf eine warme Unterkunft – doch Bund, Länder und Kommunen verständigten sich laut der Mitarbeiter im „Moin, Moin“ sofort zu Anfang der Corona-Zeit darauf, dass man das Von-Ort-zu-Ort-Wandern von wohnungslosen Menschen möglichst unterbinden wollte. Klar, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Und seitdem gibt es Obdachlosenunterkünfte eben nur noch für jene, die schon zu Beginn der Pandemie an Ort und Stelle waren.

Wer neu in eine Stadt kommt und nach Obdach ersucht, wird wieder zurückgeschickt – unter den davon betroffenen Menschen habe sich das schnell herumgesprochen, berichtet Sandra Brünger. Obdach gebe es jetzt nur noch in jener Kommune, in der man zuletzt gemeldet war. Die Wanderbewegungen seien tatsächlich zum Erliegen gekommen. Das Ziel wurde also erreicht.

In der städtischen Notunterkunft am Kiebitzweg durfte vor Corona nur übernachtet werden – jetzt dürfen die Gäste auch tagsüber bleiben.

Foto: Çağla Canıdar

Doch damit ergeben sich nun neue Probleme: Denn was wird aus jenen, die erst jetzt auf der Straße landen oder in den zurückliegenden Wochen gelandet sind? Die in Zeiten von Corona vielleicht erst ihren Job und dann ihre Bleibe verloren haben? Für sie gibt es zwar noch einige freie Zimmer in der städtischen Notunterkunft am Gifhorner Kiebitzweg – aber eben nur für jene, die auch aus Gifhorn sind. Für Durchwanderer ist schlicht und ergreifend kein Platz mehr.

Zuletzt hätten sich viele damit abgefunden, erklärt Sandra Brünger. Unter einer Brücke oder auf einer Parkbank seien die Nächte bei nicht allzu niedrigen Temperaturen ja durchaus noch erträglich gewesen. Doch allmählich wird es ernst: Wenn es nicht bald weitere Unterkunftsplätze gibt, drohe manchem eben der Kältetod.

Auch Gifhorns Bürgermeister Matthias Nerlich ist alarmiert: „Dann müssen wir eben schnelle und einfache Lösungen finden“, befand er jüngst bei einem Besuch im „Moin, Moin“ und überlegte sogleich: „Vielleicht einen Kita-Container, den wir andernorts eh abbauen würden, oder ein beheiztes Zelt...?“

Gemeinsam packen sie die Lunch-Pakete: Anne Osterloh (links) absolviert eine Arbeitsgelegenheit im „Moin, Moin“, Marcel Opitz ist fest angestellter Küchenleiter und Silke von Riegen ist ebenfalls in Vollzeit beschäftigt.

Foto: Çağla Canıdar

Für diejenigen obdachlosen Menschen, die zu Beginn der Corona-Einschränkungen Zuflucht in der Notunterkunft am Kiebitzweg suchten, könnten die zurückliegenden Monate hingegen freier von mancher Sorge gewesen sein. Denn wo vorher nur übernachtet werden durfte und die Schlafgäste jeden Morgen wieder das Feld räumen mussten, gelten seither neue Regeln: Aus Mehrbettzimmern wurden Einzelzimmer. Und die Gifhorner Stadtverwaltung hat sofort eine Waschmaschine bereitgestellt. So etwas gab es dort noch nie! Die Anzahl der Plätze in der Unterkunft wurde zwar von 17 auf 10 verringert, um mehr Abstand und Hygiene zu ermöglichen; doch wer schon da war, darf vorerst bleiben – und das jetzt auch tagsüber.

Die Mitarbeiter vom „Moin, Moin“ erkannten aber auch da sofort wieder ein neues Problem: „In der Notunterkunft am Kiebitzweg haben die Menschen nur ein Bett – keinen Kühlschrank, kein Geschirr und auch kein Besteck. Wozu auch? Bisher mussten sie ja nach jeder Nacht auch wieder abziehen“, erklärt Sozialarbeiter Uwe Bilau.

Also ergriffen die engagierten Mitarbeiter vom „Moin, Moin“ die Initiative: Seit Monaten packen sie jeden Morgen Lunch-Pakete und bringen diese zur Unterkunft am Kiebitzweg – auch um mit den dort lebenden Menschen ins Gespräch zu kommen, um ihnen in schweren Situationen zur Seite stehen zu können.

Elisabeth Behrends bringt die Kiste mit den Lunch-Paketen zur Notunterkunft am Kiebitzweg. Drin ist, was die Essensspenden gerade hergeben.

Foto: Çağla Canıdar

Im „Moin, Moin“ hingegen hat sich einiges verändert – anderes wiederum ist gleich geblieben; doch das wissen noch lange nicht alle, die es interessieren dürfte.

Hier gehen wohnungs- und mittellose Menschen ein und aus, hier bekommen sie Essen, hier können sie sich duschen und ihre Wäsche waschen, hier werden sie beraten und hier treffen sie beim Gespräch oder bei der Zigarette im Innenhof auf Menschen, denen sie nicht erst alles haarklein erklären müssen, sondern die verstehen, wie es ihnen ergeht, ganz einfach weil sie dieselben Erfahrungen teilen. Normalerweise ist das so – doch in Zeiten von Corona ist nun eben alles ein bisschen anders.

Sozialarbeiter Bilau und seine beiden Kollegen Elisabeth Behrends und Ralf Maletz erläutern, wie es im „Moin, Moin“ jetzt läuft: „Anfangs durften wir gar kein Essen mehr ausgeben, die Vordertür war stets verschlossen, obwohl wir in den hinteren Räumen natürlich auch weiterhin Einzelberatungen anboten.“

Die Mund-zu-Mund-Propaganda unter den Klienten verkürzte dies jedoch auf ein knappes: „Das ‚Moin, Moin‘ hat zu!“ Auch zu den Beratungen kamen nur noch wenige.

Anne Osterloh, Mitarbeiterin in der Küche des „Moin, Moin“, reicht Stammgast Hansi sein Essen. Zum Hauptgang gibt’s dort auch eine Nachspeise – diesmal Kuchen mit Vanilleeis.

Foto: Çağla Canıdar

Inzwischen gibt es längst wieder Essen im „Moin, Moin“: Wo vorher Frühstück für 1 Euro und Mittagessen für 2 Euro angeboten wurden, gibt es jetzt aber nur noch eine Mahlzeit am Tag – die jedoch kostenfrei! „Mal ein vollwertiges Mittagessen, aber auch mal Suppe, Salat und Baguette oder etwas völlig anderes“, so Uwe Bilau. Und warum nun völlig kostenfrei? „Ach, wir dachten uns, es gibt jetzt eh schon genug Probleme und Einschränkungen, da wollten wir damit wenigstens ein kleines bisschen entlasten...“

Während Bund und Länder also Förderprogramme für Unternehmen auflegten, hat das „Moin, Moin“ ein Hilfsprojekt gestartet, dass den wohl Schwächsten in unserer Gesellschaft direkt zugute kommt. Und so lange die Spenden – für die sich die Mannschaft vom „Moin, Moin“ aufs Herzlichste bedankt – nicht ausgehen, soll es mit dem kostenfreien Essen weitergehen.

Die Vordertür ist aber nach wie vor verschlossen, geöffnet wird sie nur alle 40 Minuten – eingetreten wird nur einzeln, Handflächen müssen desinfiziert und außer beim Essen muss ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden. „Und wenn der Andrang zum Monatsende besonders groß wird, müssen einige erst mal draußen warten, bis drinnen alle nach spätestens 40 Minuten aufgegessen und das ‚Moin, Moin‘ wieder verlassen haben“, erklärt Uwe Bilau. „Dann werden alle Tische desinfiziert, und dann darf die nächste Belegschaft rein.“

Gifhorns Bundestagsabgeordnete Ingrid Pahlmann (von links) und Bürgermeister Matthias Nerlich informierten sich über die aktuelle Situation im Tagestreff „Moin, Moin“ bei Elisabeth Behrends, Ralf Maletz, Sandra Brünger und Uwe Bilau.

Foto: Çağla Canıdar

Das alles sei jedoch nur möglich, weil die Küchenbewirtschaftung im „Moin, Moin“ direkt an einem Hauswirtschaftsprojekt hängt, „in dessen Rahmen Stadt und Landkreis Gifhorn gemeinsam eine halbe Stelle finanzieren“, so Uwe Bilau. Zudem wurde so ermöglicht, dass 1,50-Euro-Kräfte in der Küche arbeiten, die vom Jobcenter vermittelt werden. „Das zubereitete Essen selbst ist hingegen von der Finanzierung gänzlich ausgenommen, das muss durch Geld- und Lebensmittelspenden bewältigt werden“, erläutert Uwe Bilau. Und die Geldspenden sind es auch, die es möglich machen, die Stelle des Hauswirtschaftsmitarbeiters aufzustocken – „weil auch die halbe Stelle nicht ausreicht“.

Soziale Kontakte werden durch den 40-Minuten-Takt in der Essensausgabe allerdings auf ein Minimum begrenzt. In Vor-Corona-Zeiten verbrachte mancher seinen halben Tag im „Moin, Moin“, konnte Karten spielen und traf eigentlich immer auf Bekannte oder auf Menschen, denen es ähnlich ergeht. All das fehlt nun natürlich völlig. „Wer ernsthafte Probleme hat, für den hat sich kaum etwas geändert – denn unsere Beratungsangebote gibt es natürlich weiterhin“, erläutert Uwe Bilau. „Wer jedoch nur gekommen ist, um Kontakt zu anderen Menschen zu haben, um zusammenzusitzen, zu rauchen und zu quatschen, der hat mit Corona natürlich so richtig ins Klo gegriffen...“

Tagestreff „Moin, Moin“
Braunschweiger Straße 56, Gifhorn
Tel. 05371-8979110
E-Mail: tagestreff.moinmoin@diakonie-dwb.de
Mo. – Fr. 9 bis 14 Uhr
Sa. – So. 9 bis 13 Uhr

Spendenkonto:
Stiftung Wohnen und Beraten
IBAN: DE 88 2695 1311 0161 1761 28
BIC: NOLADE 21 GFW
Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg


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